: Der Vater aller Bäumchen
Der streitbare Publizist erhält eine Auszeichnung: Stadt und Universität Oldenburg ehren den amerikanischen Linguisten Noam Chomsky mit dem Carl von Ossietzky-Preis
Wichtig, wichtig, wichtig! Das ist also schon mal das richtige Adjektiv. Kommt immer vor, passt immer, darf nicht vergessen werden, wenn über Noam Chomsky geschrieben wird.
Allerdings: Eine Kollokation ist das nicht, wie die Computerlinguisten der Universität Leipzig sorgfältig ermittelt haben. Sprich: der Begriff „wichtig“ tritt nicht statistisch signifikant mit dem Ausgangsbegriff „Chomsky“ gemeinsam auf.
Wahrscheinlich, weil der – ohne den Computerlinguistik nicht denkbar wäre – noch immer mehr publiziert, als über ihn geschrieben wird. Ungeheuer produktiv ist der 1928 in Philadelphia geborene Professor, seit Mitte der 50er-Jahre schreibt er, und schreibt und schreibt. Und schreibt immer noch. Seine Standard Theorie (ST) ist im Laufe der Zeit zur Erweiterten Standard-Theorie (EST) und schließlich zum stattlichen REST der Revidierten Erweiterten Standard Theorie angeschwollen: 14 engbedruckte Seiten umfasst allein die Auswahlbibliografie von Chomskys Lehrstuhl am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Und die betrifft nur die Wissenschaft.
Da ist aber auch noch die gesellschaftskritische Publizistik. Seit dem Vietnamkrieg analysiert, kritisiert und attackiert Chomsky die imperialen Strategien der USA, nennt sie einen „Schurkenstaat“ und ärgert sich über ihre Propaganda-Presse. Deshalb hat der „Stern“ ihn im vergangenen Jahr als „graue Eminenz der amerikanischen Linken“ bezeichnet – und eminent heißt, wohl gemerkt, wichtig. Gleichzeitig hat die New York Times ihn für seine Aufsätze heftig gescholten. Er sei ja zweifellos „the most important intellectual alive“, der gute alte Herr Chomsky. Nur schreibe er „terrible things about American foreign policy“. In Oldenburg wiederum wird der Anarchist Chomsky am Sonntag mit dem Carl von Ossietzky-Preis ausgezeichnet. Genau für diese Publizistik. Diese sei feinsäuberlich von der Wissenschaft zu trennen. So wie der Geist von der Materie. Zumindest sähe das ihr Autor gerne.
Die Empirie – sprich die Kollokationen zum Begriff „Chomsky“ – spricht da allerdings eine ganz andere Sprache. Die lauten in abnehmender Häufigkeit: „Grammatik, Linguistik, Globalisierung, Ideologiedosis, Intellektuellen, MIT, USA , Humboldt, Neoliberalismus, Marx, imperialistischer, Patriotismus, 9-11, ordnen, Anarchist, angeboren, ungeheures“, naja, und so weiter, eine bunte Mischung von Theorie und Praxis. Am Ende steht jedenfalls „Saddam Hussein“. Und ganz am Anfang müsste „Marvin“ stehen.
Das hätte aber erst mal keiner kapiert. Zu Marvin muss man wissen: Der ist eine, nein die Hassfigur all jener, die erzwungenermaßen auch Linguistik studieren, ohne sich der Sprachwissenschaft verschrieben zu haben. Nie werden diese ihren männlichen Nachwuchs auf den Namen Marvin taufen. Marvin steht an erster Stelle, weil er Noam Chomskys liebstes Beispielssatz-Subjekt ist. Eine gefürchtete Übung im linguistischen Grundstudium: Derartige Beispielssätze in die so genannte Bäumchenstruktur zu transformieren, bis das Proseminar einem verwunschenen Walde gleicht. Einige Marvins springen von einem Ast zum nächsten, andere tirilieren in den Zweigen, wieder andere kratzen an der Rinde. Bei manchen hat das den Irrglauben geschürt, dass Chomskys Theorie deshalb Transformationsgrammatik (TG) genannt werde. Doch das ist allerhöchstens sehr am Rande richtig. Und mittendrin ziemlich falsch: Denn Chomskys Linguistik geht es nicht um die Beschreibung des Griechischen, Französischen oder Bäumchenschematischen. Sondern um die Tiefenstruktur, das nicht fassbare Syntaxmodul: Ein System von Prinzipien, das die allen Sprachen eigentümliche Struktur festlegt. Heutzutage heißt die Theorie deshalb auch Government and Binding-Lehre; und sie ist ungefähr so unumstritten, wie der Papst vor 850 Jahren.
Aber zurück zu Marvin: Es gibt mit Sicherheit über drei Millionen Beispielssätze, in denen Marvin Bestandteil der so genannten Nominal Phrase (NP) ist. Es wird sogar von Exempla geraunt, in denen Marvin sowohl Element der NP als auch einer komplexen Verbal Phrase (VP) ist, sprich der beiden Komponenten, aus deren Konfrontation jeder grammatisch wohlgeformte Satz jeder menschlichen Sprache besteht. Denkbar wäre etwa: Marvin nimmt sich nur, was Marvin gehört. Ach dieser Marvin! So etwas ist uns, den Menschen, jedenfalls ins Hirn eingeschrieben. Ein Resultat der Evolution. Vererbt. Eingeboren. Wenn auch glücklicherweise ohne Marvin.
Oho! Eingeborene Ideen! Das war in den 50er-Jahren eine ziemlich dissidente Hypothese: Denn damals war man mehr darauf aus, zu sichten und zu zählen, was man so hatte. Morpheme, Phoneme, Ästchen und Fliegenbeine. Da kommt Chomsky und postuliert eine Universalgrammatik! Herrjemine. Und außerdem: Das Wort stammte ja aus dem barocken Rationalismus. Metaphysik! Platonismus! Manche wittern noch heute dahinter eine im Grunde reaktionäre Haltung. Und ärgern sich, wenn Neurologen wie die Hamburgerin Mariacristina Musso die These durch Gehirnscans erhärten. Aber das ist unnötig. Denn genau besehen macht die Universal-Grammatik die Menschen erst gleich. Allesamt sind sie: Brüder und Schwestern in der Sprache. Bei jedem wächst das Bäumchen nach denselben Regeln – und doch überall anders. Jeder herrscht ein bisschen mit. Die Universal-Grammatik, das ist die Tiefenstruktur der Anarchie. Benno Schirrmeister