Das schöne Nichts
Cannes Cannes (9): Drängelei und Geschubse vor der Premiere des neuen Wong-Kar-Wai-Films „2046“. Kein anderer Regisseur filmt mit vergleichbarer visueller Virtuosität Inseln der Sehnsucht, ohne sie narrativ zu verkoppeln
Am Donnerstagnachmittag kursierte ein Gerücht: „Ich habe gehört“, murmelte ein Kollege, „die Vorführung von ‚2046‘ wird noch einmal verschoben.“ Aber die Kopien von Wong Kar-Wais neuem Film trafen rechtzeitig ein, und am Abend war das Gedränge vor der Salle Debussy gewaltig. Es wurde gedrängelt, gestoßen, und manch einer schob sich an der Schlange vorbei, ohne dass die Saaldiener eingriffen.
Nach der Vorführung fragten Defätisten: Ist es Absicht, dass die digitale Animation der ersten Sequenz etwas dilettantisch gerät, oder deutet das Ausfransen der Linien darauf hin, dass „2046“ noch immer nicht fertig ist? Andere grübelten darüber, welchem Ort und welchem Jahr jeweils welche Frauenfigur zuzuordnen sei. Beschränkte sich der Gastauftritt Maggie Cheungs darauf, dass sie einmal an eine Hotelzimmertür klopft, um sich über den Lärm im Zimmer dahinter zu beschweren? Oder ist sie nicht doch jene Su Li Zhen, die man aus „In the Mood for Love“ kennt?
Die männliche Hauptfigur Chow Wo-Man (Tony Leung), auch er ein Wiedergänger aus „In the Mood for Love“, liebte diese Su Li Zhen in den frühen Sechzigern in Singapur, ohne dass seine Liebe erfüllt worden wäre. Als er ihr ein paar Jahre später in Hongkong wieder begegnet, erkennt sie ihn nicht. Was nicht verwundert, insofern sie nun von Gong Li gespielt wird. In „2046“ entgleiten die Gesichter und Figuren, bevor man ihrer habhaft wird. Und das liegt möglicherweise nicht nur am ungeschulten europäischen Auge.
Wong Kar-Wais lang erwarteter neuer Film führt „In the Mood for Love“ nicht einfach nur fort, er treibt ihn auf die Spitze. Die Stimmung, der Schauplatz, die Kostüme, die Musik und die Figuren aus dem vorangegangenen Film leben in „2046“ weiter, und das Gefühl der Nostalgie, das in fast allen Arbeiten Wongs vorherrscht, imprägniert auch hier jede Szene. Es handelt sich um eine Nostalgie, die keiner Begründung und damit keiner Vorgeschichte bedarf. Im Universum Wong Kar-Wais ist sie so unausweichlich und so allumfassend, dass es kein Leben ohne sie gibt. Es gibt keine Liebe, die in der Gegenwart Erfüllung fände. Es gibt kein Glück, das Erfahrung statt Erinnerung wäre. Es gibt einzig die Vergangenheit, doch die ist im Strom der Zeit versunken. Wenn der Titel des Films eine Jahreszahl der Zukunft evoziert, so ist dies ironisch zu lesen. 2046 ist die Nummer eines Hotelzimmers, Chow Mo-Wan wählt sie als Titel für einen Roman, aus dem wiederum Wong Kar-Wai einen Film im Film gewinnt.
Wo ein anderer Regisseur narrative Brücken zwischen den einzelnen Sehnsuchtsinseln schlüge, interessiert sich Wong Kar-Wai für nichts als diese Inseln. „2046“ ist viel stärker noch als „In the Mood for Love“ ein Destillat der Sehnsucht. In Großaufnahmen erforschen der Regisseur und sein Kameramann Christopher Doyle die Gesichter, die sich zum letzten Mal ansehen, die Augen, die unter schwerem blauen Lidschatten so müd geworden sind, dass sie nichts mehr halten, und den Rauch, der vergeht, indem er sich in Luft auflöst. Oft sind die Einstellungen indirekt. Ein Balken, ein Türrahmen oder eine geraffelte Scheibe schaffen einen zusätzlichen Frame im Bild und verstellen dadurch die Sicht auf die Figur. Oft sieht man ohnehin nur Spiegelungen – Wong Kar-Wai liegt an Begriffen wie Ganzheit oder Präsenz wenig.
Manche Kritiker werfen ihm deswegen vor, er ergehe sich in „magischer Leere“. Unter der visuell virtuosen Oberfläche, unter den betörenden Bildern und Klängen liege nichts. Dabei ist es genau dieses Nichts, um das es Wong Kar-Wai zu tun ist, sieht er es doch als unumstößlichen Bestandteil unserer Existenz. Schöner als er hat es noch niemand gefilmt. CRISTINA NORD