piwik no script img

Archiv-Artikel

AUCH DIE OPFER DES DISTOMO-MASSAKERS MÜSSEN ENTSCHÄDIGT WERDEN Gegen die Logik des Alles oder nichts

Journalistische Provokationen sind nützlich, vor allem, wenn sie stereotype Haltungen und eingeschliffene Reaktionen bloßstellen. Der Historiker und Publizist Götz Aly wollte offenbar derart provozieren, als er am Montag in der Berliner Zeitung ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) verteidigte. Der BGH hatte die Schadenersatzansprüche zweier griechischer Kläger abgelehnt, deren Eltern Opfer des Distomo-Massakers wurden. Aly wollte insbesondere einem von ihm gemutmaßten Sturmlauf der Linken gegen das Urteil entgegentreten. Aber seine Provokation läuft ins Leere. Er verkennt den politischen Einsatz, um den es bei der Behandlung des Distomo-Massakers geht. Und er lässt praktische Lösungsmöglichkeiten zugunsten der Opfer und ihrer Nachkommen außer Betracht.

Götz Aly ruft die deutsche Staatsräson auf, um zu zeigen, dass die Anerkennung von Schadenersatzforderungen der Distomo-Kläger zu einer endlosen Kette weiterer ziviler Forderungen führen würde. Die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs sähe sich dann mit einer Prozessflut konfrontiert, die, falls erfolgreich, eine unerträgliche, über Generationen sich auswirkende Schuldenlast zur Folge hätte. Aber auch andere Regierungen, darunter auch die griechische selbst, müssten, wenn man Zivilklagen gegen fremde Staaten für völkerrechtlich erlaubt hält, für frühere Kriegsverbrechen finanziell einstehen. Damit wäre das Gegenteil von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden erreicht.

Alys Argumentation folgt dem bekannten Schema von „Alles oder nichts“. Überträgt man seine Logik auf die Verhandlungen zur Entschädigung der Zwangsarbeiter, so hätte es niemals die Einigung auf die 10-Milliarden-Bundesstiftung geben dürfen. Realistisch gerechnet hätten sie mit 180 Milliarden Mark für entgangene Löhne entschädigt werden müssen, was seinerzeit der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski ausgerechnet hat.

Nur: In den Entschädigungsverfahren stellte sich bis auf wenige Ausnahmen heraus, dass trotz gravierender Ungerechtigkeiten die Kläger bereit waren, ihre Klage zurückzuziehen und damit die Stiftung auf den Weg zu bringen. Nicht umsonst ist das Modell der Bundesstiftung auch in Griechenland in aller Munde.

Der praktische Lösungsweg für den Fall Distomo müsste so aussehen: die Zwangsanleihe, die das Deutsche Reich 1941 Griechenland abgepresst hat und nie zurückgezahlt wurde, jetzt zu begleichen und in einen Fonds zu überführen. Dieser Fonds sollte dann den Opfern der deutschen Verbrechen in Griechenland sowie deren Nachkommen zugute kommen.

Der Errichtung dieses Fonds stünde nicht die Zahlung von 115 Millionen Mark seitens der Bundesrepublik in den 60er-Jahren im Wege, denn dieser Fonds beinhaltete, anders als von Aly suggeriert, keine Wiedergutmachung des Unrechts, das den Griechen von der deutschen Besatzung zugefügt wurde. Auch dem Bedenken, ein solcher Fonds würde eine Kettenreaktion weiterer Fonds nach sich ziehen, ist durch diese Lösung Rechnung getragen. Lediglich Griechenland wurde zu einer solchen Zwangsanleihe genötigt.

Es war der Bundesgerichtshof selbst, der in seinem Urteil ausführte, der Fall Distomo „müsse mit den beschränkten Mitteln des Rechts gelöst werden“. Andere Wege „seien dem Richter versperrt“. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hat Götz Aly geflissentlich übersehen. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die Möglichkeiten zu prüfen, die jenseits des jetzt abgeschlossenen Rechtsstreits liegen. Zur Staatsräson gehört es eben nicht nur, die Bundesrepublik vor finanziellem Schaden zu bewahren, sondern auch, sich darüber hinaus um das politische Ansehen Deutschlands zu sorgen, selbst wenn diese Sorge „nur“ einem Staat wie Griechenland gelten muss, dessen politische und ökonomische Machtmittel begrenzt sind.

Götz Aly wendet sich gegen einen geschichtsfernen Antifaschismus, der „namentlich in der einstigen DDR“ das Urteil des BGH als Skandal anprangere. Mag sein, dass es solche Stimmen gibt. Aufseiten der griechischen wie der deutschen Linken, die sich um eine Lösung des Jahrzehnte währenden Distomo-Skandals mühen, wird ein anderer, ein konstruktiver Ton angeschlagen. Ihn hat Aly bei seiner Urteils-Laudatio ignoriert.

CHRISTIAN SEMLER