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Archiv-Artikel

Klimaschock im Rotkäppchenweg

The Day After Tomorrow – und die Folgen im ehemals beschaulichen Sindelfingen

Tornados hinterlassen Verwüstungen im sorgsam getrennten Biomüll

Sindelfingen, Rotkäppchenweg 13. Familie Hägele bewohnt mit ihren zwei Kindern eine gemütliche Doppelhaushälfte, der Benz steht vor der Tür, die Kehrwoche wird pünktlich gemacht: eine schwäbische Musterfamilie, könnte der ahnungslose Beobachter meinen. Doch im Innern des schmucken Anwesens tickt eine Zeitbombe. Familienvater Hermann Hägele nennt nämlich einen 48 Jahre alten Bauknecht-Kühlschrank sein Eigen, ein Erbstück von seinem Vater, das aber noch tadellos seinen Dienst verrichtet. Seine einzige Macke: An der Innenrückwand bildet sich immer wieder eine dicke Eisschicht. „Der tut’s doch noch!“, ist Hermanns Antwort, wenn seine Frau Irene mal wieder die Anschaffung eines modernen Kühlschranks anmahnt. Sparsamer Schwabe, der er ist, hat es sich Hermann Hägele zum Ziel gesetzt, „seinen“ Bauknecht über die 50-Jahre-Marke zu bringen. Deshalb muss immer, wenn die Vereisung bedrohliche Ausmaße angenommen hat, Hermann mit zum Teil unkonventionellen Methoden der häuslichen Gletscherbildung zu Leibe rücken.

Das Unglück nimmt an einem Samstag seinen Anfang, als während einer Probebohrung an der vereisten Kühlschrankinnenwand eine Eisscholle vom Bauknecht-Schelf abbricht und in das Tiramisu stürzt, das Frau Hägele für die am Abend erwarteten Gäste vorbereitet hat. Seine Frau hatte die Katastrophe jahrelang vorausgesagt – doch der starrsinnige Alleinherrscher Hermann schlug stets alle Warnungen in den Wind. Trotz unübersehbarer Anzeichen weigerte er sich bis zuletzt, das Media- Markt-Protokoll zu unterzeichnen, durch dessen Umsetzung die Klimakatastrophe im Hause Hägele mit Sicherheit hätte verhindert werden können. So aber kommt ein tödlicher Klimawechsel in Gang …

Der von der Eislast befreite Bauknecht spielt verrückt, kühlt volle Kraft voraus und verwandelt Familie Hägeles Wohnküche nach und nach in ein Inferno aus Eis und Schmelzwasser. Durch die schmelzenden Eismassen wird die fragile Balance der Luftströmungen unterbrochen, die das Klima im Hägele’schen Eigenheim jahrelang stabilisiert hatten. Der Klimaschock löst eine neue Eiszeit aus, die sich in einem heftigen Sturm manifestiert. Plötzlich spielen sich rund um den Küchentisch der Hägeles immer gewaltigere Unwetter ab: Grapefruitgroße Hagelkörner prasseln auf die Küchenzeile nieder, Wirbelstürme ungeahnter Stärke fegen über Müslidosen hinweg, Schnee bedeckt die Obstschale und Tornados hinterlassen Verwüstungen im sorgsam getrennten Biomüll.

Während Frau Hägele, ein lustig Lied auf den Lippen, im Keller die Wäsche aufhängt, während Sohn Florian im Garten unbeschwert Fußball spielt und Tochter Sonja in ihrem Zimmer nichts ahnend Bravo Girl liest, muss Vater Hägele in der Küche mit rapide fallenden Temperaturen und heftigen Überflutungen zurechtkommen. Noch glaubt der unverbesserliche Optimist an eine vorübergehende Wetterverschlechterung, aber als er sich ein Butterbrot schmieren will und feststellen muss, dass sich die zu einem harten Block erstarrte Butter offenbar längst von der Streichzart-Garantie verabschiedet hat, dämmert Hermann Hägele, dass der globale Klimawandel im Rotkäppchenweg angekommen ist.

Noch immer ahnt seine Familie nichts vom Kälteinferno, das sich in ihrer Küche abspielt, wo Vater Hägele vergebens versucht, die festgefrorene Tür zu öffnen. Verzweifelt wirft er den Herd an, wärmt seine Hände in der Mikrowelle. So vergehen quälende Stunden des Wartens, des Bangens, des Hoffens – stets überschattet von der Frage, ob seine Frau jemals wieder den Weg in die Küche finden wird.

Als endlich Rettung naht und Frau und Kinder mit vereinten Kräften die Küchentür aufstemmen, wird ein unterkühlter, doch innerlich geläuterter Vater zur heimeligen Couchgarnitur im Wohnzimmer geführt. Die schrecklichen Erlebnisse des Tages haben tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen, und es ist seiner Frau nun ein Leichtes, ihm das Versprechen für die Anschaffung eines neuen Kühlschranks der Energieeffizienzklasse A abzuringen.

RÜDIGER KIND