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Archiv-Artikel

Niemand wollte sie

Vor 65 Jahren tagte in Évian-les-Bains die Internationale Flüchtlingskonferenz – Thema: die jüdischen Vertriebenen

von HANS-ULRICH DILLMANN

Die Barrikaden in dem kleinen Évian-les-Bains, die Globalisierungsgegner Anfang Juni aus Protest gegen die G-8-Konferenz errichteten, sind ausgebrannt. Rund um die Rundkuppel des Kasinos, das abends hell erleuchtet die Innenstadt dominiert, flanieren wieder vom Businessalltag gestresste Manager.

Wie eine Oase wirkte Évian-les-Bains auch Anfang Juli des Jahres 1938. Während bei Nacht und Nebel jüdische Frauen und Männer mit meist nur dem, was sie am Leibe trugen, illegal Deutschland verließen, saßen in dem exklusiven französischen Badeort die Kurgäste beim Aperitif; während der Alte Kontinent einem Pulverfass glich, dem sich die brennende Lunte unaufhaltsam nähert, rollte im Kasino die Elfenbeinkugel, als sei nichts geschehen.

Die Juden in aller Welt dagegen verfolgten ängstlich das Geschehen in der „Stadt des Wassers“: „Es ist keine rhetorische Übertreibung, wenn man sagt, dass in diesen Tagen die Blicke von hunderttausenden auf den Lac Léman gerichtet sind. Freilich nicht auf Genf und seinen prächtigen Völkerbundpalais, sondern auf einen kleinen Hotelsaal in Évian, der so eng ist, dass die Delegierten der gestern dort eröffneten Flüchtlingskonferenz in ihm keinen Platz finden“, kommentierte das Pariser Tageblatt am 7. Juli 1938.

Vertreter aus 32 Staaten hatten sich zur Internationalen Flüchtlingskonferenz eingefunden. Vom 6. bis zum 15. Juli 1938 debattierten sie im luxuriösen Hotel Palais über das Schicksal der Juden, die aus Nazideutschland vertrieben worden waren.

Pogromartige Überfälle auf jüdische Geschäfte schon zu Beginn des Tausendjährigen Reichs signalisierten: In der „deutschen Volksgemeinschaft“ ist für Juden kein Platz. Die später in Gesetze gegossene Diskriminierung sollte sie nicht nur ausgrenzen, sondern sie auch ihrer Besitztümer berauben.

Wer emigrieren wollte, musste alles zurücklassen. Allein zwischen 1933 und 1937 traten 135 antijüdische Gesetze in Kraft – im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der in Deutschland lebenden Juden um knapp 160.000 ab. Der Anschluss Österreichs ans Großdeutsche Reich am 13. März 1938 erhöhte den Migrationsdruck, denn die Wiener Bevölkerung feierte die „Heimkehr ins Reich“, indem sie die unerwünschten Juden beispielsweise zwang, mit Zahnbürsten die Straßen zu reinigen.

Als die internationalen Delegierten – fünf Jahre nach der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland – zur Konferenz von Évian anreisten, befanden sich schätzungsweise dreihunderttausend jüdische Frauen, Kinder und Männer aus Deutschland und Österreich im Ausland – meist in den Ländern, die ans Deutsche Reich grenzten. „Öffnet die Tore“, hatte die in Berlin erscheinende Jüdische Rundschau bereits am 26. November 1935 vergeblich in einem Leitartikel an die ausländischen Regierungen appelliert, „durch humanitäre Redensarten […] ist uns nicht geholfen.“

Doch während die Lebenssituation für Juden in Deutschland immer mieser wurde, reduzierte sich zugleich die Zahl der Länder, die überhaupt noch rassistisch Verfolgte ins Land ließen. „Das Boot ist voll“, hieß es seitens der Schweizer Regierung – und sie schloss nicht nur die Grenzen, sondern schob illegal eingewanderte Juden wieder ab.

Und auch die anderen Anrainerstaaten versuchten alles, um die Einreise der ungeliebten Zuwanderer zu verhindern und sie auszugrenzen: Die Aufenthaltsbedingungen und die Kontrollen an den Grenzen wurden in fast allen Ländern verschärft. Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark: niemand wollte die Juden – schon gar nicht jene, die mittellos waren.

Schon 1934 wurde der Betrag, den jemand ins Ausland mitnehmen durfte, von zehntausend auf zweitausend Reichsmark reduziert. Ohne Erfolg versuchten jüdische Organisationen, der damaligen US-Regierung eine Erhöhung der Nationalitätenquote abzuringen: Die US-Einreisequote lag im Jahre 1938 bei 27.350 Personen aus Deutschland und Österreich zusammen. Allerdings war diese Quote in den Vorjahren niemals ausgenutzt worden. 1936 wanderten lediglich zwischen zehn- und elftausend ins „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ein, im darauf folgenden Jahr wurde diese Zahl mit dreizehntausend Flüchtlingen nur gering überschritten. Die Einwanderungsbehörde ließ Visa lieber verfallen, als sie den Verfolgten zu erteilen.

Um dem wachsenden Unmut in den USA über diese restriktive Haltung entgegenzutreten, schlug der amerikanische Präsident Franklin Delanoe Roosevelt schließlich eine internationale Konferenz vor. Sein Ziel: vor allem lateinamerikanische Staaten dazu zu bringen, die Vertriebenen aufzunehmen. Allerdings versicherte die US-Regierung vorsorglich im Einladungsschreiben den jeweiligen Regierungen, dass von keinem Land erwartet werde, mehr Emigranten aufzunehmen als die jeweilige Gesetzgebung erlaube.

Ein Argumentation, auf die sich auch der US-Chefdelegierte Myron C. Taylor in seiner Eröffnungsrede am 6. Juli zurückzog. Der ehemalige Präsident des amerikanischen Stahltrusts erklärte unmissverständlich: Seine Regierung sei nicht gewillt, die jährliche Quote für Österreicher und Deutsche zu erhöhen.

Vollmundig verkündete der Vertreter des britischen Empire, Lord Winterton, die Bereitschaft, „solchen Personen Asyl zu gewähren, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihre Heimatländer verlassen mussten“, um einschränkend zu erläutern: „Aber Großbritannien ist kein Einwanderungsland. Aus ökonomischen und sozialen Gründen kann die traditionelle Politik der Asylgewährung nur in engen Grenzen angewandt werden.“

Die Delegierten des britischen Commonwealth hielten ebenfalls die Tür fest geschlossen. „Schon einer ist zu viel“, hatte Kanadas Ministerpräsident Mackenzie King betont. Der australische Handelsminister T. W. White beschied die Delegierten, dass sein Land die Aufnahme englischer Einwanderer bevorzuge. Australien habe nicht die Absicht, diese Politik aufzugeben, solange es genügend englische Kolonisten gebe, sagte White, um seine Rede mit der Feststellung zu krönen: „Da wir keine Rassenprobleme haben, wollen wir diese nicht durch eine starke Einwanderung importieren.“

Nur der Vertreter der Dominikanische Republik bekundete die Bereitschaft, „hunderttausend jüdische Männer und Frauen mit landwirtschaftlicher Erfahrung“ aufzunehmen. Die Geste war allerdings nicht ganz uneigennützig, denn der dominikanische Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina war international just in Ungnade gefallen. 1937 hatte der Despot ein rassistisch inspiriertes Massaker an etwa 28.000 dunkelhäutigen haitianischen Arbeitern angeordnet, die in der Dominikanischen Republik lebten.

Auf die Meinungen der in Évian anwesenden Vertreter der rund drei Dutzend jüdischen Organisationen wurde nicht sonderlich viel Wert gelegt. Im Dreiminutentakt durften sie ihre Wünsche vortragen. „Es war ein trauriger Vorgang“, schrieb später der Vertreter des britischen Council for German Jewry, Salomon Adler-Rudel. „Die Grenzen blieben versiegelt – das Schicksal der Juden wurde besiegelt.“ Chaim Weizmann, nach dem Zweiten Weltkrieg erster Staatspräsident Israels, formulierte: „Damals war die Welt zweigeteilt: Die eine Hälfte bildeten jene Länder, die die Juden vertrieben, und die andere weigerte sich, sie einreisen zu lassen.“

Hilflosigkeit empfand auch die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir: „Dazusitzen in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es Ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung.“

Meir weiter: „Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt? Damals konnte ich natürlich noch gar nicht wissen, dass den Flüchtlingen, die niemand wollte, nicht nur Konzentrationslager, sondern der Tod in Vernichtungslagern drohte.“

„Niemand will sie“, höhnte der Völkische Beobachter nach Abschluss der Konferenz, „weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat.“ Kühl analysierte dagegen ein Mitglied der Abteilung II-112 im Reichssicherheitshauptamt im August 1938 die Ergebnisse der Tagung und ihre Auswirkungen auf die Politik der Judenvertreibung. Für die Zukunft sei „anzunehmen, dass die jüdische Auswanderung aus Deutschland stetig abnehmen wird“.

In Berlin hatten längst die Planspiele für die endgültige Vernichtung des europäischen Judentums begonnen.

HANS-ULRICH DILLMANN, Jahrgang 1951, freier Korrespondent in Berlin und der Dominikanischen Republik, schrieb das Buch „Jüdisches Leben nach 1945“ (Rotbuch, Hamburg 2001, 96 Seiten, 8,60 Euro)