Sündenböcke, verzweifelt gesucht

Europäisch-amerikanische Missverständnisse: Vermeintlicher Antiamerikanismus in Deutschland gilt oft tatsächlich den negativen Auswirkungen der Globalisierung. Dabei sind die USA gar nicht deren erste Nutznießer, sondern deren erstes Opfer

Der 11. September verstärkte einen Wechsel, der längst im Gange warEs wäre ein Fortschritt, wenn wir uns nicht mehr in die eigene Tasche lügen

von KAREN KRAMER

Um die Wurzeln der gegenwärtigen transatlantischen Verstimmung zu suchen, sollte man dorthin schauen, wo die Menschen politisiert werden oder es bereits sind. In schlechten Zeiten heißt das in erster Linie zu fragen: Wovor haben sie Angst? Und: Wie werden im politisch-öffentlichen Diskurs welche Gefahren für sie in Zusammenhang mit welchen Lösungen artikuliert? Das ist ein weites Feld. Mir geht es dabei um kulturspezifische Reaktionen auf die Ungleichzeitigkeiten postmoderner Lebensverhältnisse. Wir tanzen schließlich alle auf Hochzeiten von längst Geschiedenen, merken es aber nicht, weil das Orchester noch spielt, das Echo des doppelt einverstandenen „Ja!“ nachhallt und der Saal weiterhin festlich geschmückt ist. Die Metapher der Trennung gilt übrigens nicht der transatlantischen Partnerschaft, sondern den Menschen selbst, die sich von Daseinsformen lösen, die sie bislang für die ureigenen gehalten hatten.

Abhanden gekommen ist in Deutschland vor allem die herkömmliche Beständigkeit in den Arbeitsverhältnissen und im Beruf. Arbeitsstellen sind zurzeit kaum zu finden. Wer Arbeit findet, der genießt nur befristet Sicherheit. In einem Volk, dessen Mitglieder aus freien Stücken und mit Stolz ihr Wesen als mit ihrem Amt verschmolzen begreifen, muss Arbeitslosigkeit als eine an soziale Vernichtung grenzende Schande empfunden werden.

Der Glaube, es würden sich ganz neue Arbeitsbereiche auftun und die Schmach tilgen, hat sich inzwischen als Wunschdenken entpuppt. Jetzt nennt man solche Illusionen „Ich-AG“. Die Einführung dieser neuen Amtsbezeichnung ist ein Ausdruck verzweifelter Hoffnung auf ein Wunder, nämlich darauf, dass die Einzelnen in all ihrer Einzigartigkeit als wirtschaftlich relevante Größe entdeckt werden mögen.

Umgangssprachlich heißt diese soziale Misere: amerikanische Verhältnisse. Synonym dazu kursiert auch der englische Begriff von Hire and Fire. Es versteht sich von selbst, dass diese Bezeichnung sinnbildlich ist für die unsichere Stellung der Arbeitnehmer in den USA, die schon lange als typisches Merkmal für das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelten. Die Tatsache, dass sich solche Zustände zunehmend in der deutschen Wirtschaft bemerkbar machen, beruht nicht auf einem bedauerlichen Nachahmungstrieb seitens der Deutschen, sondern vielmehr darauf, dass sich die deutsche Wirtschaft genauso wenig wie die amerikanische als immun gegenüber dem globalen Kapitalismus erweisen konnte, obgleich sie aus verschiedenen Gründen zeitversetzt darauf reagiert hat. Billige Wegwerfware verdrängt deutsche Wertarbeit aus den Regalen der Geschäfte, Hamburger und Döner machen der guten alten Wurststulle den Platz streitig.

In dem langen Wettstreit zwischen französischer Zivilisation und deutscher Kultur droht letztlich amerikanische Barbarei den Sieg davonzutragen. Es sind dies Tendenzen, die sich zwar zuerst in den USA durchsetzten, aber auch dort nicht notwendigerweise amerikanisch waren. Vermeintlicher Antiamerikanismus in Deutschland gilt oft tatsächlich den negativen Auswirkungen der Globalisierung. Der feine Unterschied der Betrachtungsweise wird klar, wenn man sich die amerikanische Bevölkerung nicht als die ersten Nutznießer der Globalisierung vorstellt, sondern als deren erste Opfer.

Nehmen wir diese also unter die Lupe. Es ist schwer, das richtige Wort dafür zu finden, was „gemütspolitisch“ in den USA geschieht – aber das Land durchläuft zurzeit ohne Zweifel das, was man abstrakt-antiseptisch einen Paradigmenwechsel nennt. „Konservativ“ drückt die Stimmung nicht aus (und überhaupt kann diesem Wort nur nostalgische Bedeutung zukommen in einem Land, in dem Bestehendes sich im unentwegten Wandel befindet). Auch das schärfere Wort „reaktionär“ trifft nur bedingt zu, denn die Betroffenen greifen mit der einen Hand weit zurück, um etwas (Bibel-)Festes in der Hand zu haben, mit der andern jedoch greifen sie nach vorne, um sich zu behaupten im Wettbewerb – für zum Beispiel die Familie oder zumindest für das, was von ihr übrig bleibt, oder, genauer gesagt, für den Familiengedanken. „Die Familie“ steht inzwischen sowohl für den einzigen sicheren Ort überhaupt als auch für das Gefährdete schlechthin. Werden die USA angegriffen, gilt dieser Angriff der amerikanischen Familie. Die Familie ist der schwarze Punkt in der Mitte der Zielscheibe.

Ohne Zweifel war der 11. September 2001 ein Wendepunkt für die USA. Für viele Amerikaner war der Entschluss, den Irak anzugreifen, ein folgerichtiger Gegenzug und ein Akt unmittelbarer Notwehr. Ohne den Terrorangriff auf die Zwillingstürme in New York und auf das Pentagon in Washington wäre es undenkbar, dass ein Angriffskrieg seitens der Vereinigten Staaten breite Zustimmung gefunden hätte. Der 11. September wirkte nur verstärkend auf einen Paradigmenwechsel, der schon längst im Gange war: die zunehmende Verschmelzung von Politik und Religion im wachsenden rechtskonservativen Lager der USA.

Nicht, dass konservative Christen nicht seit je geneigt waren, ihre Stimme für konservative Kandidaten abzugeben. Aber das Wort Gottes war nicht das Wort Cäsars. Das ist jetzt anders. Ob von der Kanzel, in der Fernsehpredigt, im Rundfunk des enormen Christian Radio Network: Überall wird gegen die Liberalen, für das Recht auf Schusswaffen, gegen Abtreibung und Kondome, für die Todesstrafe, gegen die darwinsche Lüge und anderes Teufelszeug geeifert. Mancher europäische Intellektuelle mag sich darüber lustig machen, doch wer das tut, wird nicht zu den zuletzt Lachenden gehören.

Vor 20 Jahren faszinierte mich eine Haltung, die ich häufig bei Reagan-Anhängern feststellte. Die Diskrepanz zwischen den Werten, für die der Kandidat vorgeblich stand, und seinem eigenen Verhalten war eklatant; er war geschieden, nicht besonders fromm, hatte Zigarettenwerbung gemacht, und von Fleiß konnte keine Rede sein. Ronald Reagan machte überhaupt keinen Hehl daraus; er tat nicht einmal scheinheilig. Das Interessante daran war: Keiner nahm es ihm übel. Es war so, als mochten sie ihn nicht trotz, sondern wegen seiner Verfehlungen. Sowie dafür, dass er sich für die altbewährten Werte einsetzte – als Fiktion. Es war die Leistung einer „gebrochenen“ (wie Lichtstrahlen in einem anderen Medium) Subjektivität, die einen in Umbruchzeiten dazu befähigt, mit den behelfsmäßigen Fiktionen zu koexistieren, für die es weiterhin ein Bedürfnis zu geben scheint. Ich nannte diesen neuen Subjektivitätstypus „Texas-Denk“ (nach jenem extrem städtisch und technologisch hoch entwickelten Bundesstaat, der in der Wahrnehmung seiner Bewohner immer noch aus Ranchen und Prärien besteht).

Heute sitzt ein echter Texaner im Weißen Haus und kein Schauspieler. Dieser Texaner ist kein Cowboy, und um das zu verdeutlichen, hat er ein Jeansverbot im Oval Office ausgesprochen. Er meint es ernst mit der Macht, ernst mit den Werten und ernst mit der Religion. Viele seiner Wähler auch. Amerikaner leben nicht weniger widersprüchlich als vor 20 Jahren, aber die Bush-Wähler gehen damit anders um als damals die (im Durchschnitt sehr jungen) Wähler Reagans. Sie beißen sich fest, als ob sich ihre Erfahrungswelt sonst zu rasch und zu weit von dem entfernen würde, woran sie zu glauben meinen. Ob diese Reaktion sie zu nachhaltigen Problemlösungen befähigen wird, ist fraglich. Aber vor dem Hintergrund zunehmender Polarisierung des Landes wird die Lage sich eher verschärfen.

Ist die letzte Präsidentenwahl ein zuverlässiges Indiz, dann bestehen die USA aus zwei gleich großen Lagern. Ihre jeweiligen Positionen entfernen sich zusehends, und die Fronten verhärten sich. Ein amerikanischer Gemeinplatz besagt, über Religion rede man nicht. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, der Glaube sei keine Verhandlungssache. Eine sich auf religiös-fundamentalistischen Maximen gründende Politik wird sich weder innenpolitisch noch außenpolitisch durch Verhandlungskünste auszeichnen.

Die Regierung Bush ist ein komplexes und mitunter pragmatisches Gebilde, und die USA sind kein Glaubensstaat. Aber das Land macht seit mehr als zehn Jahren eine profunde Trendwende durch. Die postmoderne Flucht in die Geborgenheit der old time religion – als gäbe es sie noch – ist nicht ohne bizarre Züge, aber sie ist zu einem politischen Faktor geworden, der eingerechnet werden muss. Sie gesellt sich gut zu einem von dem Trauma der Zwillingstürme gezeichneten Neopatriotismus. Liberale gehen seit geraumer Zeit in Deckung.

Die beschriebenen Reaktionen auf den Druck der Globalisierung weisen deutliche Kulturspezifika auf. Es ist undenkbar, dass die Deutschen, die sich ja frühreif zeigten in der Modernisierung des Christentums sowie in der Beisetzung Gottes, vor dem nicht enden wollenden Abbau sozialer Sicherheit und kulturindustrieller Überfremdung Schutz suchen würden in der Religion. Es liegt jedoch nah, dass Bürger eines Landes, das das Recht auf freie Religionsausübung wie kein anderes symbolisiert, sich eben gerade dorthin wenden, wenn ihr Way of Life sich von innen auflöst und von außen bedroht wird.

Deutsche sehen die Amerikaner als Schuldige für die negativen Auswirkungen der Globalisierung, Amerikaner hingegen beschuldigen den Teufel und seine Helfershelfer. So unterschiedlich sie in der Sache auch sind, bergen doch beide Erklärungsmuster einen verhängnisvollen Irrtum. Die Fixierung auf Sündenböcke lässt Prozesse unbeachtet, deren Verlauf von profunder Bedeutung für die Lebensgestaltung aller sein wird. Anstatt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung für den Standort Deutschland eingehend und konsequent zu befassen, tun die Deutschen so, als wären „die Amerikaner“ dabei, den gediegenen, wohlgeordneten deutschen Kapitalismus eigenhändig zu zerstören. Amerikaner täten gut daran, statt die Liberalen zu verteufeln, sich über die eigentlichen Ursachen ihres Unbehagens klar zu werden.

Im Kontext der kulturspezifischen Verklärung von Globalisierungseffekten wäre es schon ein Fortschritt, wenn wir aufhören würden, uns in die eigene Tasche zu lügen.

Karen Kramer ist Direktorin des Stanford University Program in Berlin. Die ungekürzte Fassung dieses Textes ist greifbar in der Zeitschrift Internationale Politik 6/03