: „Es ist unwahrscheinlich, dass der Irak zerfällt“, sagt Gudrun Krämer
Die USA als Ordnungsmacht, der Irak als Hort des Chaos – so sehen es viele. Doch die Realität ist komplexer
taz: Frau Krämer, wie wird der Irak in fünf Jahren aussehen?
Gudrun Krämer: Das weiß niemand. Aber ich vermute, dass der Irak als einheitlicher Staat existieren wird. Und zwar nicht, weil alle Irakis dies wollen, sondern weil weder die Türkei noch Syrien, weder Saudi-Arabien noch der Iran an einem Zerfall des Irak interessiert sind.
Warum?
Das leitende Interesse lautet: Stabilität. Ein Zerfall des Irak wird dort, wie im Westen, mit Instabilität assoziiert.
Hierzulande meinen viele, dass Kurden, Sunniten und Schiiten im Irak nicht viel verbindet. Überschätzen wir die Separationsbestrebungen im Irak?
Ja. Es gibt dafür bislang bei Sunniten und Schiiten keinerlei Anzeichen. Es ist schon verwunderlich, dass sich das Schreckgespenst des Zerfalls hier so hartnäckig in den Köpfen hält.
Und was ist mit den Kurden?
Dort gibt es manche, die eine Unabhängigkeit fordern. Die Mehrheit der kurdischen Politiker im Irak betont allerdings seit Jahren, dass sie die kurdischen Interessen innerhalb des Irak durchsetzen wollen.
Ist das glaubwürdig?
Zumindest kennen sie die Interessenlage in der Region. Die Türkei ist ganz entschieden gegen einen kurdischen Staat – und kann mit westlicher Rückendeckung rechnen. Auch die anderen Nachbarn betrachten einen Kurdenstaat mit Argwohn. Ich bezweifle, dass die kurdische Gesellschaft bereit ist, gegen diese Widerstände ihre Unabhängigkeit durchzufechten.
Der drohende Zerfall des Irak ist ein Argument dafür, dass die US-Truppen dort bleiben müssen. Motto: Mit den USA ist es schlimm, ohne sie schlimmer.
Zumindest wissen wir nicht, ob das wirklich richtig ist. Die Lage im Irak wird hierzulande nur als chaotisch wahrgenommen – ohne zu sehen, welche Gründe diese Unruhe hat.
Nämlich?
Der Grund für die Unruhe liegt auch in der Besatzung. Das ist leicht nachvollziehbar. Welche Bevölkerung würde sich nicht gegen eine Besatzung wenden?
Haben die USA als Besatzer Fehler gemacht?
Falsch ist unter anderem die Bevorzugung von bestimmten US-Firmen beim Wiederaufbau. Das erregt im Irak, vorsichtig gesagt, Missfallen. Denn natürlich müssten mehr irakische Unternehmer zum Zuge kommen. Wer sonst soll das Land wieder aufbauen, wenn nicht die unternehmerische Mittelschicht, die sich nach dem Saddam-Regime gerade durch diesen Aufbau wieder festigen könnte?
Am 30. Juni soll nun die Übergangsregierung in Bagdad die Geschäfte übernehmen. Ist das ein Marionettenregime der USA? Oder ein seriöser Versuch, ein demokratisch legitimiertes Gremium zu schaffen?
Sicher ist: Souverän wird diese Regierung nicht sein, selbst wenn sie über die Ölressourcen verfügen sollte. Solange im Irak mehr als 100.000 Soldaten sind, die der Kontrolle dieser Regierung entzogen sind, hat sie keine Souveränität. Gleichzeitig ist es tatsächlich ungemein schwierig, im Irak Personen zu finden, die das Vertrauen der Bevölkerung oder bestimmter Gruppen genießen. Das ist vor allem ein Erbe des Saddam-Regimes, das eigenständige Köpfe lange Zeit unterdrückt hat. Es kann derzeit nur darum gehen, mit Hilfe des UN-Beauftragten Brahimi eine Gruppe von glaubwürdigen, repräsentativen Personen zu finden. Damit haben sie noch keine demokratische Legitimation. Im besten aller Fälle wird es aber gelingen, 2005 halbwegs unverfälschte Wahlen zu organisieren.
Die Wahlen sind also ein erstrebenswertes Ziel?
Was wäre denn die Alternative? Dass die Koalition, geführt von den USA, weiter allein mit kooperationswilligen Irakern zusammenarbeitet? Die Iraker, die dies tun, sind kompromittiert. Sie gelten als Quislinge. Kurzum: Die Wahlen sind ein Schritt zu einer selbst gewählten Führung – auch wenn selbst diese Regierung nicht souverän wäre, solange sie die dort stationierten internationalen Truppen nicht kontrolliert.
Die USA scheinen derzeit in einer Falle zu stecken: Sie brauchen mehr Soldaten im Irak, aber mehr Soldaten provozieren mehr Widerstand. Richtig?
Die Frage ist: Was sollen die Soldaten dort? Wenn sie nur Stabilität schaffen sollen, wird das misslingen. Der Irak braucht eine wirtschaftliche und politische Entwicklung, die die Irakis auch annehmen. Bleibt das aus, nutzen auch mehr Soldaten nichts. Im Gegenteil: Die Präsenz der Truppen und der Mangel an Souveränität der Regierung verhindern ja gerade diese Entwicklung. George W. Bush scheint diesen Widerspruch nicht zu sehen.
Wie werden sich die USA künftig im Irak verhalten?
Manche Kommentatoren in den USA scheinen angesichts der Probleme im Irak derzeit umzuschwenken. Die Idee, den Leuchtturm der Demokratie im Irak zu errichten, verblasst. Nun will man wenigstens Stabilität. Also: lieber ein starker Mann als offene, unruhige Verhältnisse. Das führt Bushs Demokratie-Rhetorik ad absurdum.
Also weg vom militanten Demokratiepathos der Neocons, zurück zur Realpolitik?
Das zeichnet sich ab. Die USA scheinen zu den schlechten, alten Status-quo-Parolen zurückzukehren. Und das ist gerade für die arabische Welt falsch. Denn ohne Neuanfänge wird die arabische Welt in undemokratischer, erstarrter, verkrusteter Stagnation verharren. Der Westen kann da nicht beides sagen: grundlegende Änderungen verlangen – und gleichzeitig wollen, dass alles stabil bleibt, inklusive autoritärer Regime. Das passt nicht. Wer nur auf Stabilität setzt, kann sich auch die Menschenrechts- und Demokratierhetorik schenken. INTERVIEW: STEFAN REINECKE