: Alternativen aus Amerika
Kanada stand mit Inuit-Gesang, steppenden Geigern, Schuhgetrappel und indischen Ragas aus Toronto im Mittelpunkt des Tanz- und Folkfests Rudolstadt. Die USA haben dort zurzeit keine Chance, Schwerpunktland zu werden
Ist Kanada der bessere Teil Nordamerikas? Auf den ersten Blick sind die Unterschiede zu den USA nicht so groß. Beide Länder sind jung, Einwanderungsgesellschaften, Industriestaaten mit Wolkenkratzern. Aber Kanada führt keine völkerrechtswidrigen Kriege und hat auch im Alltag keine Waffenparanoia – wie Michael Moore in „Bowling for Columbine“ süffisant dokumentierte.
All das macht Kanada zwar noch nicht hip, aber doch sympathisch. Und deshalb passte es gut in die Zeit, dass das Tanz- und Folkfest Rudolstadt/Thüringen (TFF) am Wochenende Kanada als Schwerpunktland präsentierte. Rudolstadt ist mit 60.000 Besuchern an drei Tagen das zentrale Event der deutschen Weltmusikszene, und gleich beim Eröffnungskonzert machte Moderator Michael Kleff, Chefredakteur der Szenezeitschrift Folker, klar, dass er Kanada für eine gute Wahl hält. „In den USA diskutieren kritische Geister längst, ob sie dorthin auswandern sollen“, berichtete Kleff, der einen Wohnsitz in New York hat.
Wäre es aber nicht politischer gewesen, die USA zum Schwerpunktland zu machen und so die Auseinandersetzung direkt zu führen? Bernhard Hanneken, der künsterische Leiter von Rudolstadt, schüttelt den Kopf. „Solange ich hier arbeite, wird es keinen USA-Schwerpunkt geben“, erklärt Hanneken. Das Land werde nicht nur von einem „Terroristen“ regiert, leider seien selbst die meisten alternativen US-Musiker so „arrogant“, dass er keine Lust auf eine Zusammenarbeit habe. Hanneken ist übrigens kein Ostdeutscher, sondern Rheinländer. Ganz so strategisch wie es jetzt aussieht, war die Entscheidung für Kanada allerdings nicht. Den Anstoß gab ein unverschämt gutes Angebot des Canada Council for the Arts, der für sechs kanadische Acts die Reise- und Honorarkosten zahlen wollte, um die heimische Szene in Europa bekannter zu machen. Hanneken lud drei weitere Bands und Künstler ein, fertig war der Kanadaschwerpunkt. Der ursprünglich vorgesehene Focus auf Senegal entfiel ersatzlos. Hart ist das Weltmusik-Business.
Nun also Kanada. Dieses Land, das kontinuierlich zwischen Spaltung und der Feier seiner Vielfalt changiert. Bekannt ist in Europa vor allem der Konflikt mit der französischsprachigen Provinz Québec. Doch seit der letzten Volksabstimmung hat sich der Separatismus dort wieder etwas beruhigt. Französischsprachige Folkbands wie Les Baltinses lassen sich auch nicht einfach vor den Karren des regionalistischen Bloc Québécois spannen. „Wir fühlen uns als Kanadier“, betont etwa François Morrissette, der bei Les Baltinses die Mandoline spielt.
Dabei haben Folkmusiker in Québec und den benachbarten englischsprachigen Provinzen durchaus Gemeinsamkeiten. Sie alle können beim Spielen und Singen die Füße nicht stillhalten. In Rudolstadt steppte etwa die Geigerin April Verch aus Ottawa, während sie den Bogen strich. Und die Herren der A-cappella-Gruppe Charbonniers de l'Enfer begleiten ihren Gesang durch virtuoses Schuhgetrappel, was insbesondere im Sitzen drollig aussieht.
Die eigentliche folkkulturelle Spaltung Kanadas verläuft zwischen den alten Provinzen im Osten, der multikulturellen Metropole Toronto und den entfernten, erst viel später besiedelten Gebieten an der Westküste. So werden vor allem im Osten noch die alten schottischen, englischen oder französischen Traditionen gepflegt und weiterentwickelt, während aus Toronto beispielsweise die Gruppe Tasa kam, bei der indische Ragas auf arabische, griechische und Latin-Einflüsse stoßen.
Schon aus Gründen der politischen Korrektheit waren in Rudolstadt auch die First Nations Kanadas vertreten. Die von einem DJ begleitete Sängerin Tanya Tagaq präsentierte den Kehlkopfgesang der Inuit, der in Technik und Variantenreichtum dem samischen Joik ziemlich ähnelt. Bei der Weltmusikmesse Womex vor drei Jahren hatte der Arts Council sogar ein reines Aborigines-Programm zusammengestellt.
Von so viel Förderung können Folkmusiker in Deutschland nur träumen. Als Do-it-yourself-Marketing-Maßnahme wurde im Vorjahr erstmals ein deutscher Folk- und Roots-Preis namens „Ruth“ vergeben. Und diesmal passt der Preisträger sogar zum Generalthema in Rudolstadt. Denn auch der Berliner Hans-Eckard Wenzel ist eine Alternative zu Amerika. Er hat Texte und Melodien des US-Song-Hobos Woody Guthrie ins Deutsche übertragen und kammermusikalisch bearbeitet. Da heißt es etwa: „Korruptes Gesindel steigt auf und wird groß. Und alles wär besser, wär'n wir sie endlich los“. Wer braucht da noch US-Singer/Songwriter?
Doch zu Beginn von Rudolstadt 2003 gab es eine versöhnliche Geste: Eröffnet wurde das Festival von der US-Band Calexico. Die sind wohl einfach alternativlos gut. CHRISTIAN RATH
Das vom Canada Council for the Artsgesponserte kanadische Programm istunter dem Titel „Sonic Weave 2 heute Abend auch in München beim Roots-&-Routes-Festival zu sehen, 19 Uhr,Bayerischer Rundfunk, Hopfenstraße