: Letztes Mittel: Abrissbirne
aus Bremen HEIKE HAARHOFF
Am Ende verloren auch die Tauben den Respekt. Sie brüteten mitten auf dem Balkon, sie kackten beim Anflug auf ihr Nest zielsicher auf das Geländer, und wenn Saifo Fackro einen zaghaften Schritt auf die Veranda seiner Wohnung im zehnten Stock machte, dann schlugen sie ein paarmal lahm mit den Flügeln, so wie man Fliegen wegwedelt, die einem lästig sind.
Er hätte ein Netz spannen können. Zusätzlich zu dem Stacheldraht vor der Wohnungstür und an der Balkonbrüstung. Mit dem hatte er versucht, seine Frau und seine sechs Kinder zu schützen. Vor den Besoffenen und den Junkies. Sie waren kurz vor den Tauben eingefallen. Verwahrlost und unzurechnungsfähig, hatten sie sich in den verlassenen, winkligen Treppenhausfluren des elften Stocks eingenistet, dort, wo man nach oben in den Himmel von Osterholz-Tenever guckt und nach unten direkt auf die Wohnungstür und den Balkon der Fackros. Gegen die herabfallenden Scherben und Spritzen half der Draht nicht.
Saifo Fackro ist kein Mann, der klagt. Seine Heimat, den Libanon, verließ er vor 15 Jahren, da war er 25, und dort war Bürgerkrieg, jetzt ist er 40 Jahre alt, ist durch Flüchtlingslager und Antragstellen gegangen, irgendwann sogar beim städtischen Grünflächenamt von Bremen untergekommen, wieder rausgeflogen; „so ist“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Dann, sechs oder sieben Jahre ist das her, wurde ihm die Wohnung im Bremer Stadtteil Osterholz-Tenever zugewiesen: 95 Quadratmeter für acht Personen, Besoffene in den Aufzügen, Junkies in den Fluren, Tauben auf dem Balkon, das Sozialamt zahlt. „So ist“, sagt Saifo Fackro.
Er wäre vermutlich nicht auf die Idee gekommen, sich zu wehren. Sich zu wehren dagegen, dass mittlerweile jede zweite Wohnung in seinem Hochhaus im Bremer Stadtteil Osterholz-Tenever leer steht. Dass mit jedem Nachbarn, der den Block verlässt, Verslumung und Vandalismus zunehmen, weil sich niemand mehr zuständig fühlt. Nicht für den scharfen Uringeruch in den Aufgängen, nicht für die Fäkalsprache an den Wänden im Treppenhaus, nicht für die eingeschlagenen Fensterscheiben. Bald wöchentlich zündelten Unbekannte in den Tiefgaragen unter den Hochhäusern, bis die Verwaltung Sicherheitsschlösser anbrachte.
Und hätte die städtische Osterholz-Tenever-Grundstücksgesellschaft (OTG) ihm Ende März nicht die Kündigung geschickt, hätte er nicht auf der Versammlung im Kindergarten seiner Tochter kurz darauf erfahren, dass die Abrissbagger auch seinen Block niederreißen werden, weil Abriss als letzter Ausweg aus einer gescheiterten Städte- und Wohnungsbaupolitik erscheint – Saifo Fackro hätte noch lange nicht seine Sachen gepackt. Jetzt aber ist er zum Umzug gezwungen. „Endlich“, sagt er.
Osterholz-Tenever, 2.653 Wohnungen für 7.700 Menschen: gestapelt in 15 Hochhäusern, geplant Anfang der 70er-Jahre, gelegen 40 Busminuten von der Bremer Innenstadt entfernt, wie ein Satellit auf einer Wiese nahe der Autobahn. Bis zum Jahr 2008 soll knapp ein Drittel der Bausubstanz verschwinden. Das entspricht dem heutigen durchschnittlichen Leerstand im Stadtteil. Osterholz-Tenever ist die erste westdeutsche Großwohnsiedlung, die großflächig abgerissen wird; etwa ein Dutzend weitere zwischen Nordsee und Alpen sollen folgen (siehe Kasten).
Wohnraum vernichten, ohne zu wissen, was an seiner Stelle entsteht: vor ein paar Jahren noch wäre das ein Tabubruch gewesen. Wer Häuser verfallen ließ, der musste besserenfalls mit Demonstrationen, schlimmerenfalls mit Besetzung rechnen. In Osterholz-Tenever ist kein Aufschrei zu vernehmen.
„Ich dachte, das wird jetzt der richtige Abstieg.“ Silvia Suchopar weiß noch genau, wie sie sich vor 18 Jahren fühlte, bei ihrem Umzug nach Osterholz-Tenever. Das Mütterzentrum mit den lichtdurchfluteten Räumen und den hellen Kiefernmöbeln, das die 46-Jährige mit aufgebaut hat und in dem sie nun Kaffee und Kuchen verkauft, gab es damals noch nicht. Die Siedlung war erst wenige Jahre alt, einen Ruf hatte sie schon weit über Bremen hinaus: Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Ausländer, Kriminelle hausten hier, so hieß es. „Wer konnte, zog weg“, und das, sagt Silvia Suchopar, hatte in den wenigsten Fällen etwas mit der dicht gedrängten Hochhausarchitektur zu tun, die viele heute für das Scheitern der Siedlung verantwortlich machen.
Silvia Suchopar hatte keine Wahl: Ohne Ausbildung und Anstellung und als allein erziehende Mutter zweier Kinder war sie froh, überhaupt eine Wohnung zu finden. Von Euphorie jedoch konnte keine Rede sein. Osterholz-Tenever, mit diesem Namen wurde nie Wohlstand oder sozialer Aufstieg assoziiert. Wohl keine Großwohnsiedlung in Westdeutschland hat bei ihren Bewohnern je das Maß an Identifikation erreicht, das die meisten Plattenbausiedlungen in der ehemaligen DDR bis zu deren Zusammenbruch stifteten. Zentralheizung, fließendes Warmwasser und ein Fahrstuhl, das galt im Westen der 70er-Jahre nicht mehr als Errungenschaft. Wer in Osterholz-Tenever landete, der war gestrandet.
Entsprechend gering ist der Widerstand gegen den geplanten Abriss, mit dem im kommenden Jahr begonnen werden soll. Die Dimensionen sind hier freilich andere als in den Geisterstädten der ehemaligen DDR: Nur 765 Wohnungen sollen in Osterholz-Tenever verschwinden, von denen nicht einmal mehr jede zweite bewohnt ist. „Uns“, sagt Ralf Schumann, der Geschäftsführer der Projektgesellschaft OTG ist und den Abriss und die Umsiedlung managt, „uns ist daran gelegen, dass die Menschen im Stadtteil bleiben.“ Er führt durch die Siedlung, als wäre er hier der Bürgermeister, weist auf das Grün zwischen den einzelnen Hochhäusern hin, zeigt stolz ein Treppenhaus, das jüngst von Bremer Kunststudenten mit prächtigen Gemälden verschönert wurde, stellt die Hausmeister vor, die die Gewoba bereits in einigen Häusern beschäftigt und die den Neuankömmlingen ein Gefühl von Sicherheit geben sollen.
Über zu viele Jahre habe die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewoba, deren Tochter die OTG zu 50 Prozent ist, Fehler bei der Belegungspolitik gemacht, sagt Ralf Schumann, „aber wie Sie sehen, hänge ich immer noch nicht am Baum“. Er lacht, aber es klingt, als wolle er etwas gutmachen.
Die hohen Leerstände in Osterholz-Tenever sind, abgesehen von den üblichen Faktoren wie Bevölkerungsrückgang und Abwanderung ins großstädtische Umland, zu einem hohen Maß politisch selbst verschuldet: Bis 1999 galt die von der Gewoba und der Stadt Bremen ausgehandelte Mietensystematik, wonach für ein und dieselbe Wohnung Arme wenig und Reiche viel bezahlen sollten; eine Preispolitik, die in der Theorie sozial gerecht erschien und in der Praxis dazu führte, dass am Ende nur noch Transferbezieher in Osterholz-Tenever blieben. Für die anderen, selbst für Einzelhandelsverkäufer, Kleinhandwerker oder Krankenpfleger, die gemeinhin nicht der Kategorie Großverdiener zuzuordnen sind, war die Miete so hoch angesetzt, „dass sie sich dafür fast ein eigenes Häuschen hätten bauen können“, sagt Ralf Schumann. Dazu kam, dass einige der Wohnblocks nicht der Stadt, sondern einem Privateigentümer gehörten, der die Häuser über Jahre verfallen ließ, bis sie Anfang 2003 an die OTG zwangsversteigert wurden.
Die Stigmatisierung des Stadtteils war eine Frage der Zeit. Inzwischen zahlt die OTG jeder Familie, die ihre Wohnung wegen des Abrisses verlassen muss und trotzdem in Osterholz-Tenever bleibt, eine Prämie von 500 Euro sowie die Kosten für die Umzugsspedition. „Trotzdem“, sagt Ralf Schumann, „es bleibt viel Überzeugungsarbeit“.
Jauad Boujibar und Yaschar Seyed-Djalali, beide 20 Jahre alt und Deutsche marokkanischer beziehungsweise iranischer Herkunft, bekommen die Vorurteile zu spüren, sobald sie „das Ghetto“, in dem sie aufgewachsen sind und von dem sie fast liebevoll sprechen, verlassen. „Wenn du eine Lehrstelle suchst, dann besorg dir lieber eine Wohnadresse außerhalb Osterholz- Tenevers“, rät Yaschar Seyed-Djalali den Schulabgängern aus dem Viertel. Potenzielle Arbeitgeber, so seine Erfahrung, würden die Bewerbungsunterlagen andernfalls gleich zurückschicken.
Dabei, sagen beide, fühlen sie sich wohl hier. Es gibt einen Fitnessraum für Jugendliche, demnächst vielleicht sogar eine Boxschule, und „Hoodwork“, ihr selbst verwaltetes Jugendcafé, haben sie sich in mühevoller Kleinarbeit nachmittags nach der Schule renoviert und eingerichtet: orientalische Wandmalereien, bequeme Sessel, die Gewoba hat eine ausrangierte Küchenzeile gestiftet. „Kommen Sie, gucken Sie, bitte!“, ruft Jauad Boujibar plötzlich aufgeregt und stößt die Tür zum Toilettenraum auf. Es blitzt und funkelt, als sei hier gerade eine Reinigungsbrigade durchgezogen. „Kann man doch sogar Damen zeigen, oder?“, fragt er kokett und legt den Kopf vor lauter Stolz ein bisschen schief. „Machen wir alles selbst sauber.“
Osterholz-Tenever. Bis 2008 soll der Stadtteil so weit rückgebaut sein, wie es in der Planersprache beschönigend heißt, dass immerhin die Leerstände beseitigt sind und damit, so die Hoffnung, auch der Vandalismus. Und danach? Niemand hat derzeit eine Antwort darauf, was mit den frei werdenden Flächen passieren soll, niemand eine Idee, wie der Abbau von Sozial-, Kultur- und Jugendeinrichtungen zu verhindern ist, wenn die Einwohnerzahl weiterhin sinkt.
Aber vielleicht sind das auch nicht die drängendsten Fragen in Osterholz-Tenever, im Moment jedenfalls nicht. Saifo Fackro steht vor gepackten Kisten: Wäsche, Kinderspielzeug, Möbel. Er sieht fröhlich aus. Behutsam schließt er die Tür zum Balkon. Sollen die Tauben sich breit machen, sein Umzug kann beginnen. Weit ist der Weg für die Möbelpacker nicht: nur zwei Straßen weiter hat die OTG den Fackros eine 140-Quadratmeter-Wohnung angeboten, im neunten Stock eines Hochhauses. Das sieht von außen nicht sehr viel anders aus als das alte Zuhause der Fackros, aber drinnen funktioniert der Fahrstuhl, riecht es sauber, gibt es Nachbarn. „Ist etwas“, sagt Saifo Fackro.