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Archiv-Artikel

peter ahrens über Provinz Über journalistischen Spürsinn

Einst wurde bei der „Ostfriesen-Zeitung“ lustig getrunken und gehurt – doch diese Zeiten sind vorbei

Meine ersten Gehversuche als Volontär bei der Ostfriesen-Zeitung in Leer fanden zu nachtschlafener Zeit auf der Straße statt. Die Chefredaktion war der Ansicht, angehende Redakteure sollten am Anfang ihrer Ausbildung die Zeitungen, die sie später voll schreiben sollten, erst einmal austragen. Damit ihnen der akademische Dünkel vergehe, bevor sie ihn überhaupt ansetzen konnten. Die nächsten Wochen bestritt ich als Zaungast der Buchhaltung, in der Druckerei und in der Montageabteilung, wo mir Helmut zeigte, wie man eine Anzeige auf die Seite klebt und Fotos, die die Redaktionen in der falschen Größe eingeplant hatten, passend macht. Künftigen Volontären wird Helmut nichts mehr zeigen können. Er gehört zu dem Fünftel der Belegschaft, dem die Geschäftsführung vor Wochenfrist die Kündigung ins Haus geschickt hat. Erst haben die Geschäftsführer eine teure Unternehmensberatung durchs Haus gejagt, und die ist auftragsgemäß zu der Erkenntnis gelangt, dass man so eine Zeitung auch mit mindestens 50 Menschen weniger machen kann.

Bei der Ostfriesen-Zeitung habe ich das Zeitungmachen gelernt. Ich habe über ostfriesische Bonbonmacher geschrieben, über die Spitzenkandidatin der Partei Bibeltreuer Christen, über Neonazis in Wiesmoor, die Böhsen Onkelz in der Emder Nordseehalle und die Boßel-Meisterschaften auf Mallorca. Ich hab bei Wünschelrutengängern irgendwo zwischen Hesel und Uplengen auf dem Sofa gesessen, hab mir die landwirtschaftliche Besamungsstation Georgsheil angeschaut und eine zollfreie Einkaufsschiffstour nach Borkum begleitet, bei der ich kotzend über der Reeling hing, während um mich herum putzmuntere Rentner das dritte Kilo Sauerkraut in sich hineinschoben. Ich hab mit dem Oberkreisdirektor des Landkreises Emsland eine Paddeltour gemacht und bin mit dem damaligen Manager von Werder Bremen, Willi Lemke, Marathon gelaufen – leider musste ich nach vier Kilometern aufgeben. Ich hab am Landgericht Aurich eine Verhandlung beobachtet, bei der der Angeklagte sich dafür verantworten musste, dass er seine Frau umgebracht, ihr die Hände abgehackt und die Leiche dann in einen Gully gestopft hatte. Und einen anderen, wo der Angeklagte unvermittelt aufstand, eine Pistole zog, den Staatsanwalt niederschoss und sich danach im Gerichtssaal umbrachte. Da war ich allerdings eine halbe Stunde vorher schon gegangen, weil mir mein untrüglicher journalistischer Instinkt gesagt hatte, dass an diesem Prozesstag nichts Spektakuläres mehr passieren würde. Die Konkurrenzzeitungen haben am nächsten Tag groß mit den Augenzeugenberichten ihrer Gerichtsreporter aufgemacht.

Wer in der Redaktion Geburtstag hatte, bekam vom Chefredakteur jedes Jahr ein Büchlein mit politischen Karikaturen geschenkt, und auch sonst ging es familiär zu. Getrunken wurde bei der Arbeit allerdings nicht mehr, nachdem die Geschäftsführung sich genötigt gesehen hatte, ein totales Alkoholverbot während der Arbeitszeit auszusprechen. Das war wohl nötig gewesen, weil Volontäre, so wurde mir kolportiert, vor meiner Zeit hauptsächlich die Aufgabe zu erfüllen hatten, Bier zu holen. Und die Leeraner Polizei sich Abend für Abend lediglich zwischen Redaktion und Hauptstraße postieren musste, um reiche Beute an Alkoholsündern am Steuer zu machen und dem Leeraner Stadtsäckel somit eine verlässliche Einnahmequelle zu sichern. Ich kam etwas ins Grübeln, als ich bereits bei meinem zweiten Auswärtstermin angesprochen wurde: „Ach, junger Mann, Sie sind von der Ostfriesen-Zeitung? Wird da eigentlich immer noch so viel gesoffen und gehurt?“ Aktivitäten, denen nach meiner bescheidenen Beobachtung höchstens noch auf den jährlichen Betriebsfesten gehuldigt wurde.

Heute nennt sich der Verlag nicht mehr Ostfriesen-Zeitung, sondern leicht hochtrabend Zeitungsgruppe Ostfriesland. Geklebt werden die Anzeigen längst nicht mehr, und familiär geht es auch nicht mehr zur Sache. Nachdem die Geschäftsführer einmal mit der Sense durch alle Abteilungen außerhalb der Redaktion gegangen sind und 50-Jährige, die seit 30 Jahren bei der Firma sind, ebenso lustig gefeuert haben wie schwangere Frauen, die sich für ihre Familien gerade ein Eigenheim auf die ostfriesische Wiese gesetzt haben, sollen im Herbst mindestens 15 der 56 Redakteure ins Gras beißen, heißt es aus dem Betriebsrat.

So grausam sind die Damen und Herren an der Spitze aber auch nicht, wie es jetzt vielleicht klingen mag. So lässt die Unternehmensleitung die Konstruktion, dass die Zeitung über stolze drei Geschäftsführer verfügt, auch künftighin unangetastet. Das ist doch sehr menschlich.

Fragen zum Geschäftsführer?kolumne@taz.de