: Die Kunst des Teetrinkens
Morgen beginnt „X-Wohnungen“, ein Theaterprojekt auf der Suche nach dem wahren Leben: Für zehn Minuten öffnet sich dem Zuschauer eine Privatwohnung in Kreuzberg oder Lichtenberg
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
„Eigentlich müsste man gar nichts machen. Es ist alles schon da, jede Wohnung eine Welt für sich.“ Ruedi Häusermann, Regisseur aus der Schweiz und einer von über 30 Künstlern, die ab morgen vier Tage lang „X-Wohnungen – Theater in privaten Räumen“ inszenieren, ist enthusiastisch. Er schwärmt von den „echten Bühnenbildern“ in jeder Wohnung, wie sich das Leben im Detail spiegelt. „Da kann man nicht mehr denken, ach das ist ein Klischee. Da wird es ernst bei jedem Kuschelbären.“ Weil jeder Gegenstand eine Geschichte hat und sich aus dem Mikrokosmos einer Wohnung deshalb eine ganze Weltsicht erklären lässt, hat sich Häusermann für ein biografisches Thema entschlossen.
In seiner Wohnung wird eine Tänzerin und Pianistin, die noch nicht lange in Berlin lebt, von ihrer Familie, der Vergangenheit und ihren Hoffnungen erzählen. Zum Beweis, dass dies ihr Leben ist, zeigt sie Diplome und Dias vor, dreht vielleicht eine Pirouette und bietet den Besuchern möglicherweise Tee an. Alles ganz authentisch. Aber es ist weder ihre Wohnung noch die des Regisseurs, das Bild der Privatheit implantiert in das Format des Privaten. Denn bei X-Wohnungen weiß man nie, was wirklich ist und was gespielt.
Wie schnell man im Zuhause eines anderen wahrnimmt, zuordnet und definiert: Das war für Ruedi Häusermann eine entscheidende Erfahrung während der Recherchen. Bei diesem Bündel an Empfindungen will er die Besucher packen. Die Zuschauer sind hier anders als sonst im Theater für sich selbst verantwortlich und können sich weniger hinter ihrem Zuschauersein verstecken. So beobachtet jeder auch sich selbst als Teil einer inszenierten Wirklichkeit. Realität im Ausnahmezustand.
X-Wohnungen fand das erste Mal 2002 in Duisburg statt, Teil des Festivals „Theater der Welt“. Das Echo war nachhaltig: Das Theater, das sich in die Viertel und zu den Leuten nach Hause begab, die der Hochkultur meistens fern standen, hatte viele Sympathien auf seiner Seite und regte die Fantasie an. Man musste nur davon hören, um schon Vorstellungen zu entwickeln, wie das Theater in die Ritzen der Realität kriecht und sich blutsaugerisch am Authentischen nährt; wie eine Kunstform aus ihrem Getto ausbrechen und neue Anschlussmöglichkeiten finden will.
Schon in Duisburg war Arved Schultze als Dramaturg dabei. Hinzugekommen ist als Dramaturgin Shermin Langhoff, seit vielen Jahren in migrantischen Kulturprojekten unterwegs. Sie haben die Wohnungen in Kreuzberg und Lichtenberg gesucht, über Vereine und Wohnungsbaugesellschaften. Die Geschichte beider Stadtteile, ihre Entwicklung in der geteilten Stadt und nach der Wende, gaben den Ausschlag für diese beiden Routen. Beteiligt sind viele deutschtürkische Filmregisseure: nicht nur weil sie anders als Theaterleute gewohnt sind, an einen realen Ort als Drehort zu arbeiten. Auch weil der Film viel mehr als das Theater bisher der Ort für migrantische Geschichten ist.
Sehr gern würde Kezban Yücekaya einmal den Regisseur Fatih Akin zu Besuch haben. Zwar hat sie bisher Akins Filme nicht und auch nicht die von Thomas Arslan gesehen, der ihre Wohnung zum Spielort nimmt, aber sie alle kaufen in ihrem Feinkostgeschäft in der Kreuzberger Markthalle ein. Dieser Laden scheint ein geheimer Knoten hinter dem Projekt, kennt sie doch viele der beteiligten Künstler und Wohnungsgeber. Die Neugierde, wer die Besucher sein werden, nennt sie als ihr Motiv, dem Theaterprojekt ihr Leben zu öffnen.
„Wir spielen kein Theater, das Leben läuft einfach weiter, Freunde sind vielleicht schon da, wenn die Zuschauer kommen“, stellt sie sich vor. „Die Familie entscheidet, was passiert und wie viel zu sehen ist“, ergänzt Shermin Langhoff. Für sie und mich hat Kezban Yücekaya Tee, Kuchen und ein Tablett mit Nüssen, Feigen und Aprikosen zurechtgestellt. Zu Besuch in fremden Wohnungen, ich übe das schon mal während der Arbeit an diesem Vorbericht, sitze vorsichtig in dem tiefen türkisfarbenen Sofa und esse wohl weniger, als die Gastgeberin gerne sähe. Aus dem Zimmer der Töchter, die alle drei nur kurz im Wohnzimmer vorbeischauen und höflich den Besuch begrüßen, hört man in unseren Gesprächspausen Musik und Lachen. „Typische Fragmente des Alltagslebens“ mitzunehmen, wie Langhoff Arslans Konzept beschreibt, kann eben auch heißen, dass nichts geschieht und man nur über die Wohnung staunt, die so frisch gestrichen und möbliert wirkt.
Die Suche nach dem Authentischen, das ist oft eine zwiespältige Geste: Denn so bescheiden der Künstler einerseits hinter die Wirklichkeit zurücktritt und nur den Rahmen für ihre Sichtbarkeit neu arrangiert, so sehr besetzt er doch auch den Ort und signiert das Alltägliche praktisch wie ein eigenes Produkt. Einige Regisseure, erzählt Shermin Langhoff, sind deshalb mit der Hinterfragung des Projekts und seiner voyeuristischen Struktur beschäftigt. Schließlich ist die Ausstellung des Privaten und Intimen auch eine Ware und ein gängiges Fernsehformat: Ein Kamerateam klingelt an der Tür und alle müssen begeistert mitspielen.
Beteiligt sind unter anderem der Schauspieler Herbert Fritsch, die Filmemacher Fatih Akin, Neco Celik, Ayse Polat und Harun Farocki, der als Einziger in der eigenen Wohnung arbeitet, oder der polnische Theatermacher Krzystof Warlikowski. Fast alle gehören zum Umfeld des Hebbel am Ufer, Initiator und Träger von X-Wohnungen. Das Projekt ist programmatisch für das HAU und den Wunsch, als Theater eine neue Relevanz als Beobachter und Kommentator des Realen zu finden. Denn so prominent das Künstlerteam auch ist, man bucht nicht die Künstlernamen, sondern eine Tour durch Kreuzberg oder Lichtenberg.
Dennoch ist X-Wohnungen auch ein Luxusprojekt. Zu zweit ziehen die Zuschauer los und sind in mehreren Wohnungen an einem Abend jeweils zehn Minuten Gast. Jeder wird etwas anderes erleben, keine zwei Aufführungen sind identisch. Die bescheidene Geste, – seht her, das Leben selbst – verlangt eine aufwändige Struktur.
Vielleicht ist es am schönsten, sich vorher auszumalen, was alles passieren könnte. In der Zeit, die es dauert, einen Milchkaffee zu trinken, hat Ruedi Häusermann mindestens noch drei weitere Ideen, was den Besucher erwarten könnte. Zum Beispiel ein Bewohner, der ungern abwäscht und jedem Besucher eine Spülbürste in die Hand drückt. Oder vielleicht eine Blumenführung im Bienenkostüm. Das Wirkliche, man merkt es schon, ist bei ihm stets nur einen kleinen Schritt vom Obsessiven und Wahnsinnigen entfernt.
X-Wohnungen, 3. + 4. Juni, ab 17.30, 5. + 6. Juni ab 15.30, jeweils im 10-Minuten-Takt. Info: (0 30) 25 90 04 27