Das Gute wollen, das Schlechte schaffen

Die von Friedrich Schenker vollendete Hanns-Eisler-Oper „Doktor Faustus“ erlebte in Kassel ihre Uraufführung

Vorspiel in der Tiefe: Bei Pluto und seinem Leichenkahnfahrer Charon herrscht Frust. Auf Erden fallen keine „großen Seelen“ mehr an. Sanft meldet sich der Ruderschlag aus der Tiefe des Orchestergrabens. Sabine Hartmannshenns Inszenierung zeigt zunächst ein Schattenspiel archaischer Figuren, dann die Studierstube zu Wittenberg in einem kalt-funktionalen Rundbau, der auch Atlanta, das Ziel des großen Verjüngungsausflugs, einfasst. Vorab kommen die Herrschaften der Unterwelt überein, einen deutschen Intellektuellen zur Belebung des Bösen zu aktivieren – den aus dem Deutschunterricht bekannten Dr. Faust. Also Vorhang auf und tief hinein in eine Geistesgeschichte.

Historisch vielschichtig ist die Faust-Materie fürwahr: Von der „Historia“ des Frankfurter Druckers Spies (1587) und Marlowes Tragödie (1604) bis zu den Adaptionen des 20. Jahrhunderts – der 1933 aus Deutschland geflohene Komponist Hanns Eisler knüpfte an den Bearbeitungen der Volkssage an, als er in der jungen DDR das Sujet noch einmal in alter Liebe und mit neuen polemischen Zuspitzungen auffrischte.

Eislers Libretto „Johann Faustus“ siedelte den Stoff in der Frühneuzeit an, in der Amerika entdeckt und erobert, christlicher Glaube und Kirche reformiert und gegenreformiert, die Bauernkriege grausam ausgefochten wurden. Das Projekt ging auf Diskussionen zurück, die Eisler im kalifornischen Exil einerseits mit Thomas Mann führte, als dieser an seinem „Doktor Faustus“ saß, andererseits auf das, was er mit seinem Freund Bertolt Brecht ausheckte: Wie das Sujet unter Umgehung des Kontinents Goethe noch einmal zu aktualisieren sei. Der 1952 probeweise publizierte Entwurf akzeptierte einerseits die SED-Vorgabe einer „neuen deutschen Volkstümlichkeit“, widersprach im Kern jedoch der Kulturpolitik der Ulbricht-Führung. Der passte es, wo von ihr doch eben in Scharen alte Nazis in ihre „Einheitspartei“ gelockt wurden, keineswegs, wie Eisler sich schwerpunktmäßig mit der Korrumpierbarkeit der Intellektuellen befasste.

Die Veröffentlichung des Librettos wäre besser unterblieben. Den Angriffen der gelenkten Presse folgten Diskussionsveranstaltungen in der Berliner Akademie, die Züge eines Tribunals annahmen. Es bestand offensichtlich der Plan, den unliebsamen Komintern-Funktionär Gerhart Eisler, wohl aber auch seinen Bruder Hanns analog zum tödlich endenden Prager Prozess gegen Rudolf Slánský in Ostberlin anzuklagen. Der 17. Juni und der Tod Stalins veränderten die Lage, das Tauwetter brach an. Doch der Komponist ließ die Finger von der heißen Sache. Bis zu seinem Tod 1962 kam er über einige musikalische Skizzen nicht hinaus. Auf Wunsch der letzten Witwe Eislers setzte sich Friedrich Schenker, als Posaunist dem Leipziger Rundfunkorchester entsprungen und mit der Familie wie dem Erbe Eislers seit langem vertraut, mit 50 Jahren Verspätung an die Arbeit. Für das Staatstheater in Nordhessen lieferte er eine Partitur für gut vier Stunden Musik – eine redlich-konventionelle Vertonung des einst geächteten Librettos.

„So kann’s nicht weitergehen“, sagt der Faust Eislers und Schenkers in seinem Vielzweckraum, dessen Wellblechwände sich hochziehen lassen und unterschiedliche Einblicke gewähren. Die Studierstubenmöbel erhielten die Umrisse der Stadtkirche und der Spitzgiebel Wittenbergs. So wird die frustrierende Idylle illustriert, in der die Geistes-Koryphäe seinen Pakt mit Mephisto schließt. Von dort bricht er durch die Lüfte auf nach dem neu entdeckten Land Atlanta, in dem unschwer die USA zu erkennen sind – ein Land mit starken Sicherheitsvorkehrungen, Turbo-Kapitalismus und der schönen Elsa als Freiheitsstatue (Petra Schmidt) – ein Krokodilsgehege.

Schenkers Tonspur spendierte für die Partien des Faust (Johannes Kösters) wie des Mephisto (Kai Günther) oder Hanswurst (Sebastian Bollacher) gleichermaßen reichlich große und kleine Nonen, Septimen und Sekunden. Die geschäftige Musik erstickt an der Menge und Überlast des Textes. Von dem sind bei der Uraufführung keine zehn Prozent zu verstehen. So erscheint in Kassel eine Literatur-Oper, der mit der Textverständlichkeit auch der Sinn abhanden gekommen ist. Dergleichen ist bekanntlich kein Hindernis dafür, dass anachronistische Produkte doch noch in der deutschen Provinz reüssieren. In diesem Fall könnte einen, der so viel zu spät kam, das Leben schlussendlich belohnen: als letzten musikalischen Historisten der DDR.

FRIEDER REINIGHAUS