: Türen schlagen auf und zu
Eine kleine Dosis Wahrheit: Natasha Arthy hat mit „Alt, neu, geliehen und blau“ den 32. Dogma-Film gedreht
Wer von den beiden ist die Verrückte? Mette, die seit zwei Jahren in der Psychiatrie sitzt, weil ihr Freund Thomsen Knall auf Fall nach Afrika abgehauen ist? Oder ihre Schwester Katrine, die morgen Jonas heiraten wird, Mette aber aus Mitleid ihr Eheglück verschweigt? Ist es Mette, die immerzu „Leck mich, Ingeborg!“ ruft? Oder Katrine mit dem apathischen Lächeln? Fest steht: Die zwei haben mehr gemeinsam, als sie ahnen. Erst küssen, dann ohrfeigen sie sich, und zwischendurch lässt Natasha Arthy, die Regisseurin von „Alt, neu, geliehen und blau“, sie im selben Augenblick in den Spiegel sehen, beide aus demselben Grund: Thomsen.
Thomsen (Björn Kjellman) ist das ungelöste Problem aus der Vergangenheit. Eben aus Kenia zurückgekehrt, trägt er noch ein niedliches Shirt mit Elefanten und hat tollen Sex gehabt, aber „höchstens mit zwei, drei … Dörfern“. Aus falscher Rücksichtnahme wird ihm Katrine (Sidse Babett Knudsen) eine lebenswichtige Information vorenthalten. Und auch den angeblichen Schonungsbedarf ihrer Schwester (Lotte Andersen) bastelt sie sich nur zurecht. Denn insgeheim glaubt Katrine, dass ihr Glück unauflöslich mit dem Unglück Mettes verwoben ist. Daraus zieht sie die Rechtfertigung, ihren Mitmenschen genau die Dosis Wahrheit zu verabreichen, die es braucht, um schöne, heile Welt zu spielen.
Als Ablenkungsmanöver startet Katrine mit Thomsen einen Mini-Road-Trip durch Kopenhagen, denn wie es der kirchliche Brauch verlangt, benötigt die Braut noch etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und etwas Blaues. Vier Accessoires müssen aufgetrieben werden und treiben selbst die Handlung voran.
Die Szene, in der Mette die Psychiatrie verlassen will, bringt das Sujet von „Alt, neu, geliehen und blau“ auf den Punkt: „Da draußen sind Leute, die sich selbst gefährden“, sagt sie. Eine Sekunde später fahren Thomsen und Katrine beinahe die gackernden Brautjungfern über den Haufen. Grundsätzlich haben alle das Potenzial durchzudrehen – und ein Problem mit der Wirklichkeit. Der eine erfindet ein bisschen dazu, der andere denkt sich ein wenig weg. Nur dass die draußen es nicht schaffen, sich ihren eigenen Gefühlen zu stellen.
Formal versucht der Film immer wieder, die strikte Trennung zwischen Außen und Innen, zwischen Normalen und Psychopaten, aufzuheben. Während des großen Gefühlseklats im abgeschlossenen Raum des Autos schlägt die Tür unablässig auf und zu, in die geschlossene Anstalt wird zur Abwechslung eingebrochen, und was Mette bei der Therapeutin sucht, findet Katrine beim Verhör auf der Polizeistation.
Auf der dänischen Dogma-Webseite wird Natasha Arthys zweiter Film als offizielle Nr. 32 aufgeführt. Er ist liebenswert und komisch – dank parallel montiertem Junggesellenabend und schmutzigen Dialogen der Brautjungfern. Aber er ist keine Hochzeitskomödie, allein schon deshalb, weil er die finale Kirchenszene auf wunderbare Weise ad absurdum führt.
Dennoch bleibt am Ende das Gefühl, dass alles ein bisschen zu rund und zu glücklich ausgeht. Das liegt daran, dass „Alt, neu, geliehen und blau“ von der ursprünglichen Idee des Dogma-Films stark abweicht – wie die meisten seiner Vorgänger. Das Paradox des Regelbruchs betreibt Arthy jedoch unter einem neuen Vorzeichen: Wenn Mette einen Sänger halluziniert, lässt sich lang darüber streiten, ob die Musik hier – wie von den Dogma-Regeln verlangt – einer natürlichen Quelle entspringt. „Alt, neu, geliehen und blau“ spielt mit den Interpretationsmöglichkeiten der zehn Gebote, denn wichtiger als deren Wortlaut sind doch Sinn und Zweck von Dogma: das Leben zu zeigen, wie es ist. Und dazu gehören eben sowohl Halluzinationen als auch eine verträumte Kinowelt.
MARION DICK