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Archiv-Artikel

Stetige Suche nach dem Gesamtkunstwerk

Bizarre Mischung aus rein pragmatischen, funktional eingerichteten Gebäuden und anarchisch Organischem in Mobiliar und Garten: Eine große Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen würdigt den dänischen Designer und Architekten Arne Jacobsen, dessen Prototypen Massenware wurden

Sessel „Schwan“ und „Ei“ sind längst zu Ikonen des Designs geronnen Wechsel von organischen Formen und austauschbaren Modulen

von PETRA SCHELLEN

Wenn man es recht bedenkt, ist es nur konsequent, die Abschieds-Ausstellung einem zu widmen, der zeitlebens nach dem Gesamtkunstwerk strebte: Den dänischen Designer Arne Jacobsen (1902–1971) nimmt die letzte unter Ägide von Direktor Zdenek Felix präsentierte Werkschau im Südteil der Hamburger Deichtorhallen in den Blick. Denn Anfang September wird Felix ein – trotz seit Jahresbeginn laufender Ausschreibung noch nicht gekürter – Nachfolger beerben. Dem aus Nord- und Südhallen (3.800 bzw. 1.800 Quadratmeter) bestehenden “Gesamtkunstwerk Deichtorhallen“ wird die neue Ära ein unwiderrufliches Ende setzen: Schon im August vorigen Jahres hat Kultursenatorin Dana Horáková (parteilos) dem Konzept einheitlicher Bespielung des – inklusive Vorplatz – rund 6000 Quadratmeter großen Areals eine Absage erteilt. Die Sammlung des Modefotografen F. C. Gundlach wird künftig in den Südhallen residieren, was den Gestaltungsspielraum des künftigen Direktors erheblich einschränken wird. Ob sich unter diesen Bedinungen der Ruf der Deichtorhallen als international bedeutendes Ausstellungszentrum moderner Kunst wird halten lassen, weiß derzeit niemand.

Doch nun also Jacobsen, parallel zum in den Nordhallen präsentierten Werner Büttner zu sehen. Vom Louisiana Museum im dänischen Humlebæk hat Felix die Schau übernommen, deren einzige deutsche Station dies ist. Und er hat sichtlich kaum gewusst, wohin mit der Masse an Fotos, Modellen, Aquarellen und Zeichnungen. Denn hier soll Jacobsen nicht nur als Schöpfer von Gebrauchsgegenständen und der millionenfach nachproduzierten Stühle und Sessel Ameise, Ei und Schwan gewürdigt werden, sondern vor allem als Architekt. Ein Ansatz, bei dem sofort formale Diskrepanzen zwischen Jacobsens Architektur und seinem Design ins Auge fallen, die auch die Ausstellung nicht auflöst. Denn der Künstler gehörte einer Übergangsgeneration an, die zwar klassisch ausgebildet war, sich aber zunehmend modernistischen Tendenzen verpflichtet fühlte. Zudem trug er zeitlebens einen unterdrückten Berufswunsch mit sich herum: Maler hatte er eigentlich werden wollen; der Vater riet ihm zum lukrativeren Architekturstudium.

Natur-Aquarelle und -zeichnungen zieren daher etliche Deichtorhallen-Wände, und auch die Pflanzen-Stoffdrucke mit denen er sich während seines Exils von 1942 bis 1945 in Schweden über Wasser hielt, zeugen von einer nie bekämpften Vorliebe für Naturmotive. Organische Formen prägen seine Schwan- und Ei-Sessel, die sich wie Blütenkelche um den Sitzenden legen – und zugleich höchst praktisch sind: Für das von ihm komplett entworfene Kopenhagener SAS Royal Hotel, sein letztes Gesamtkunstwerk (1955–60), hatte Jacobsen die Stühle entworfen, die die Balance zwischen Anonymität und Privatsphäre im kühlen Lobby-Bereich wahren sollten. Zusätzlich verbanden die Sessel mit Styropor-Kern und akkurat gesäumten Leder- und Wollbezügen ein ultramodernes Material mit solider handwerklicher Arbeit, an der ihm sehr gelegen war. Doch auch wenn diese Synthese das bekannteste Label ist, das dem Künstler angeheftet wird, erschöpft sich sein Konzept hierin keineswegs: Streng minimalistische Gebäude waren Jacobsens eigentliches Markenzeichen; das Bellevue-Areal (1931–37) an der Küste Nordseelands und die Reihenhaussiedlung Söholm in Klampenborg ragen hier heraus. Zugleich sind es Gebäude, die subtil ihre eigenen Muster schaffen: Wie serielle Schraffur wirken die geneigten Reihenhausdächer, während die dezent versetzten Bellevue-Häuser eigene Würfelmuster bilden.

Als System aus kombinierbaren Modulen hat Jacobsen auch die Munkegaard-Schule angelegt, die jedem Klassenraum einen eigenen Hof vorschaltet. Ein Modell, das seriell und rein funktionalistisch gedacht war und doch Nischen für individuelle Gestaltung barg. Extra anarchischen Pflanzenbewuchs, der bizarr die Muster der Bodenplatten unterläuft, erprobte Jacobsen in diesen Innenhöfen. Und eine riesige Orchideen-Glasvitrine hat Jacobsen in den Wintergarten des SAS Royal Hotels gesetzt, durch raffinierte Beleuchtung zum Abstraktum verfremdet.

Das Spiel mit geometrischen Formen, das Modellieren des Lichts in Innen- und Außenräumen war Hauptanliegen des Architekten, dessen Karriere 1929 mit dem Wettbewerbs-Beitrag Haus der Zukunft begonnen hatte: Helikopter-Landeplatz, Garage und Motorboot-Zufahrt bietet das runde, spiralförmig gestaltete Haus, das – futuristischen Ideen verpflichtet – die Illusion von Schwerelosigkeit erschuf. Funktionalismus war dabei eines der wichtigsten Kriterien, und wenn man sich vergegenwärtigt, dass Jacobsen die praktisch eingerichtete Küche erfand, berechnet auf den durchschnittlichen Bewegungsradius eines Industriearbeiters, scheint fast ein mechanistisches Menschenbild auf, das Jacobsen aber nie zu Ende dachte. Im Gegenteil: Ein Foto seines eigenen Wohnzimmers offenbart einen blumenüberwucherten Raum samt Flügel, als solle dies eine letzte quasi-sentimentale Nische sein.

Dass Jacobsen den Funktionalismus – aller öffentlichen Begeisterung für die neue Transparenz zum Trotz – übrigens gelegentlich übertrieb, leugnet auch Deichtorhallen-Direktor Felix nicht. Das langgestreckte Rathaus von Rödovre etwa, das als silbriger Meteorit verloren in der Landschaft liegt, zählt zu den Gebäuden, die man, so Felix, „wohl eher kritisch betrachten muss“.

Arne Jacobsen: Absolut modern; Hamburger Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2; Di–So 11–18 Uhr; bis 31.8.2003