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Archiv-Artikel

Die Achse des Grünen

Wo einst der Eiserne Vorhang verlief, wächst ein „Grünes Band“ mit einer ungeahnten Vielfalt an Biotoptypen. Nun soll es erweitert werden. Zu einem transeuropäischen Grüngürtel

von ULRICH GROBER

Aus dem Weltall, so berichtete der Astronaut Ulf Merboldt, seien ab einer bestimmten Entfernung nur noch zwei Bauwerke zu erkennen: die Chinesische Mauer und die innerdeutsche Grenze.

Das war 1983. Mittlerweile ist der Eiserne Vorhang im Mülleimer der Geschichte verschwunden. Und vielleicht lässt sich ja aus der Höhe bald ein neues Werk bewundern, wo einst die Teilung sichtbar war: eine grüne Kette, geschaffen von der Natur und ermöglicht durch ihre Schützer.

Denn als die Minenräumkommandos ihre Arbeit getan hatten und Naturschützer begannen, das Niemandsland zu kartieren, machten sie einen erstaunlichen Fund. Trotz Betonbunkern, Metallgittern und Kahlschlägen: Die fast 1.400 Kilometer lange Schneise vom weißen Strand der Lübecker Bucht bis zum dunklen Tann des Fichtelgebirges war von einem Mosaik intakter Lebensräume überzogen.

Naturschützer aus Ost und West fanden über das gemeinsame Erbe zueinander. Ihrem natürlichen Verbindungsstück gaben sie den Namen Grünes Band. Ein Korridor vitaler Natur in der Mitte des Landes, der das nachhaltige Zusammenwachsen des lange Getrennten symbolisieren sollte.

Dreizehn Jahre danach. Eine neue, umfassende Kartierung der Biotoptypen auf dem ehemaligen Grenzstreifen ist Anfang 2003 abgeschlossen worden. Ihr Ergebnis: Trotz einiger gefährlicher Lücken – das Band lebt und wächst. Es ist Rückzugsgebiet für bedrohte Tiere und Pflanzen und Reservoir der Artenvielfalt. „Eine Perlenkette wertvollster Biotope“, sagen die Ökologen und sprechen von einem „Naturwunder“.

Nun wird das Projekt der Naturschützer erweitert. Mit dem Grünen Band durch Deutschland als Bindeglied soll ein transeuropäischer grüner Gürtel entstehen. Auf der ganzen Länge des ehemaligen Eisernen Vorhangs, von der karelischen Tundra bis zum Karst der Adriaküste.

Doch wie sieht es aus, das Naturwunder? Eine Wanderung an einem Frühsommertag Mitte Juni: 24 Grad im Schatten, der schwache Nordwestwind kühlt nur wenig. Federwolken segeln am blauen Himmel, ein Bussard kreist im Aufwind über dem Ulstertal. Biosphärenreservat Rhön. Am Fuße eines Hügels, dort, wo die B 84 zwischen Eisenach und Hünfeld die thüringisch-hessische Landesgrenze überquert, steht die Ruine eines Wachturms. Ein guter Ausgangspunkt.

Inmitten des üppigen Grüns bleibt ein graues Band aus Betonplatten. Der Kolonnenweg, der letzte Überrest der Grenzanlagen. Gebaut hat man ihn für Kübeltrabis und Lkws. Nur langsam gewöhnen sich die Füße an die Abstände der Spalten in der Fahrspur.

In diesen Tagen um die Sonnenwende verblühen gerade die Heckenrosen. Holunder verströmt seinen süßen Duft. Das Weiß von Giersch und Wiesenkerbel kontrastiert mit dem Blau von Günsel und Lupinen und den goldbraun wogenden Gräsern. Der frühere Kfz-Sperrgraben steht voll von jungen Büschen und Bäumen.

An der Grabenkante, bei Fluchtversuchen einst eine tödliche Falle, hat der Wind Samen von Salweide, Birke und anderen Gehölzen gesät. Erdhummeln summen zwischen den Hochstauden, darein mischt sich der Gesang von Lerchen. Auf den ersten Blick dominieren heimische Allerweltspflanzen. Doch wie sie in diesem Raum, in dem Überwachung einst allgegenwärtig war, wild und frei aufblühen – das fasziniert.

Erst dreizehn Jahre vergangen? Selbst der zu DDR-Zeiten mit aggressiven Herbiziden kahl gespritzte Spurensicherungsstreifen zwischen Kolonnenweg und Metallgitterzaun ist überwuchert. Die schnelle Regeneration einer jahrzehntelang geschundenen Natur erklärt sich aus der Vergangenheit.

Der Grenze vorgelagert, hatte die DDR eine fünf Kilometer breite strategische Sperrzone gezogen. Dort wurde die Besiedlung planmäßig ausgedünnt. Ortsfremde durften nur mit Passierschein hinein. Landwirtschaftliche und forstliche Nutzung waren stark eingeschränkt.

In dieser Abgeschiedenheit hatten zahlreiche Pflanzen- und Tierarten einen ungestörten Rückzugsraum gefunden. Hier bildete sich das Potenzial für die ungestüme Inbesitznahme des Todesstreifens. Allein 130 Vogelarten und vierzig Schmetterlingsarten haben Biologen in dem Korridor gezählt. Viele davon stehen auf der Roten Liste.

Hinter einer Kuppe kommt ein Stück des alten Grenzzauns ins Blickfeld – und, auf einer Anhöhe, ein Flaggenmast mit dem Sternenbanner inmitten eines eingezäunten, kiefernbestandenen Areals: Point Alpha. Im Kalten Krieg galt dieses Gelände als einer der heißesten Punkte auf dem Globus. Hier hatte die US Army einen der strategisch wichtigsten Posten in ihrem weltweiten Netz von Stützpunkten. Point Alpha war die Frühwarnanlage in der Region, die das Pentagon als „first battlefield of the next world war“ einstufte.

Heute ist Point Alpha eine Art museale Kultstätte für Transatlantiker. Die verlassenen grauen Blechbaracken, Munitionsbunker, Kampfpanzer und der Barbecue-Platz werden tadellos in Schuss gehalten. In der Kanzel des Wachturms blicken Schaufensterpuppen in amerikanischen Uniformen mit Ferngläsern nach Osten.

Hier im „Fulda Gap“ hatten die Planspiele der Nato die „avenue of approach“ verortet, die Einfallschneise der östlichen Panzerarmeen. In den kritischen Phasen des Kalten Krieges war ein integriertes Schlachtfeld für die so genannte offensive Vorwärtsverteidigung vorbereitet. Die konventionellen, chemischen und atomaren Arsenale waren prall gefüllt. Ein Funke hätte in diesem Pulverfass den ersten atomaren Schlagabtausch auslösen können.

Man verlässt Point Alpha, heilfroh, dass andere Mächte und andere Mittel die Wende brachten.

Zurück auf dem Kolonnenweg zu schulterhohen Gräsern und Buschwerk aus Weißdorn und Schlehe. Jungwuchs von Eberesche und Bergahorn streifen den Körper. Der Wachtelweizen hebt seine blaugelben Blüten. Baldrian und Rote Lichtnelke, Händelwurz und Knabenkraut wachsen um den Weg. Aus den Öffnungen der Betonplatten leuchten Walderdbeeren. Bei jedem Schritt flattern Bläulinge auf.

Ein summendes, blühendes, singendes Band: Was für ein idyllisches Symbol für den glücklichen Ausgang einer dramatischen Geschichte. Oder nicht?

Ganz so einfach stellt sich die Sache nicht dar. Das Grüne Band ist weit mehr als nur natürliche Harmonie. Es ist das Wahrzeichen für ein neues Denken im Naturschutz. Längst geht es nicht mehr darum, ein paar nette Landschaftsbilder zu konservieren. Die Zeiten des isolierten Hegens sind vorbei. Es reicht nicht mehr, nur einen Zaun um ein niedliches Edelweiß zu machen. Der moderne Naturschutz befasst sich mit der Stabilisierung der natürlichen Lebensgrundlagen. Der Schlüssel ist der Erhalt der biologischen Vielfalt.

Rapider Flächenverbrauch durch Siedlungen und Verkehrswege bedrohen die Biodiversität, die Grundlage von ökologischer Nachhaltigkeit. Die ausufernde Versiegelung, Zerschneidung und Fragmentierung der Landschaft führt zur Zerstörung von naturnahen Lebensräumen und damit zum Artenschwund.

Die Gegenstrategie ist der Biotopverbund. Das heißt: vernetzte Flora-Fauna-Habitate, also Lebensräume für überlebensfähige Populationen der heimischen Tier- und Pflanzenarten ausweisen. Und diese Räume durch lineare Strukturen, durch Korridore in der Landschaft, so vernetzen, dass Ausbreitungslinien für Arten entstehen können.

Natur ist nicht planbar. Aber ein solches Verbundsystem könnte der Weg sein, um auf lange Sicht die Potenziale von Flora und Fauna zu erhalten – und damit auch Regenerationsfähigkeit und Fruchtbarkeit unserer Kulturlandschaft.

„Natura 2000“ heißt das Biotop-Netzwerk auf europäischer Ebene. Hier entsteht eine Infrastruktur, die für unsere Zukunftsfähigkeit von vitaler Bedeutung ist. Wichtiger als die Infrastruktur der Verkehrswege oder die Netzwerke der Telekommunikation.

„Neue Wildnis“ – mit diesem Schlagwort aus der wissenschaftlichen Diskussion umschreibt Uwe Riecken vom Bundesamt für Naturschutz in Bonn das Leitbild für die Naturoasen. „Eine Sekundärwildnis“, die nicht auf unberührter Natur fußt, sondern auf der vom Menschen geprägten und überformten Landschaft. Im Kontext eines landes- und europaweiten Biotopverbunds gewinnt das Grüne Band an der ehemaligen innerdeutschen Grenze erst seine Bedeutung. Großflächige Schutzgebiete sind gleichsam die Perlen in diesem System. Damit sie glänzen können, brauchen sie eine Kette, die sie verbindet.

ULRICH GROBER, Jahrgang 1949, lebt als freier Autor in Marl und schreibt über Kultur und Natur