Den Himmel berührt

Der Argentinier Gaston Gaudio reißt bei den French Open in Paris ein fast schon verlorenes Finale noch herum und bezwingt seinen Landsmann Guillermo Coria, der danach vollkommen untröstlich ist

AUS PARIS DORIS HENKEL

Als sie die Bilder aus Paris im Fernsehen sahen, muss den Leuten in Argentinien ein heißer Schauer über den Rücken gelaufen sein. Ihr Tennisheld Guillermo Vilas bei der Siegerehrung auf dem Podium glückselig Arm in Arm mit dem Sieger Gaston Gaudio, dieser Sieger in seiner Freude rührend wie ein kleines Kind, die weißblaue Flagge passend zum wolkenlosen Himmel, 16.000 Franzosen im Chor – „Argentina, Argentina“ – und zum Schluss die schmetternden Töne der Hymne – du liebe Güte, wohin nur mit all dem! Gaudio war es, der später die schönste Beschreibung für diese Szenen fand: Das habe sich angefühlt, als berühre er den Himmel.

Nur einer stand da, namenlos enttäuscht und allein – Guillermo Coria, der besiegte Favorit. 6:0 und 5:1 hatte er geführt im ersten Teil dieses Finales, später im dritten Satz fehlten ihm nur noch acht Punkte zum Sieg, aber von übergroßer Anspannung, daraus folgend von Krämpfen und der wachsenden Nervosität so kurz vor dem vermeintlich nahen Ende geplagt, konnte er die spektakuläre Wendung des Spiels nicht verhindern. Er ließ sich behandeln, schlich durch den vierten Satz, bis die Mittel Wirkung zeigten, hatte sich im fünften wieder leidlich im Griff, vergab um Haaresbreite zwei Matchbälle beim Stand von 6:5 und konnte dann nur noch zusehen, wie Gaudio schließlich gewann. 0:6, 3:6, 6:4, 6:1, 8:6 in dreieinhalb mächtigen Stunden, in einem Match, das gewiss unter den aufregendsten Endspielen der French Open ganz weit oben auf der Liste steht. Auf einer Stufe mit Andre Agassis dramatischem Sieg vor fünf Jahren gegen Andrei Medwedew und mit Agassis Niederlage im Jahre 1991 gegen Jim Courier.

So ein Spiel zu verlieren ist für den, der es fast schon gewonnen hatte, eine schockierende Erfahrung. Aber es war mehr als die Niederlage allein, die Guillermo Coria zu schaffen machte. Er fühlte sich von seinem Körper und von seinen Nerven im Stich gelassen bei einer Mission. Mit einem Sieg wollte er den Makel vergessen machen, den Makel des positiven Dopingtests vom Dezember 2001, der Nandrolon-Spuren aus Nahrungsergänzungsmitteln nachgewiesen hatte. Mit einer Geldstrafe, mit sieben Monaten Sperre und mit Abzug von Ranglisten-Punkten ist er danach von der ATP bestraft worden. Obwohl er mittlerweile rehabilitiert wurde, nachdem die ATP einräumen musste, dass ihre eigenen Therapeuten den Spielern verunreinigte Getränke verabreicht hatten, leidet er immer noch unter dem Eindruck, die Leute trauten ihm nicht.

Die Pressekonferenz war schon fast zu Ende, als das Thema noch einmal angesprochen wurde, und da war es um seine Fassung geschehen. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, mehr und immer mehr, und er redete mit stockender Stimme: „Nachdem, was damals passiert ist, wollte ich endlich raus aus dieser Geschichte. Vielleicht war ich deshalb auch nervös. Ich wollte dieses Turnier unbedingt gewinnen, ich wollte meine Familie glücklich machen, die mich unterstützt hat in den schwierigen Momenten. Ich bin hierher gekommen und habe gedacht, das ist DIE Gelegenheit, um allen zu zeigen, was ich kann, vor allem denen, die mich damals verurteilt haben. Ich wollte, dass sie ruhig sind.“

Tränen am großen See von Roland Garros, schlimmer als am Tag vorher bei Elena Dementjewa. Aber auch ein Stück Hoffnung. Er werde sich ein Beispiel an Juan Carlos Ferrero nehmen, kündigte Guillermo Coria an. Der Spanier – damals auch klarer Favorit vor dem Finale – hatte beim ersten Versuch in Paris 2002 gegen Landsmann Albert Costa verloren, vor einem Jahr gewann er dann überlegen den Titel.

Gaston Gaudio, 25, der Spätberufene, der Launenhafte, der Zweifler, machte am schönsten Tag der French Open 2004 sein Glück. Woran man sich erinnern wird von den Bildern dieses Tages? Natürlich daran, wie er den letzten Ball mit seiner wunderbaren Rückhand spielte, wie er danach lauthals lachte, als könne er das alles überhaupt nicht begreifen. Und auch daran, wie er gleich auf dem Platz eine ganze Runde an der Bande drehte und die ausgestreckten Hände der Zuschauer abklatschte.

Aber vor allem an einen ganz bestimmten Moment während des Spiels. Es stand 4:3 im dritten Satz, Gaudio war endlich zumindest in Ansätzen vorhanden in diesem Spiel, als das Publikum zu seiner Unterstützung „la ola“ durch die Runde schickte. Immer wieder. So lange, bis Gaudio, der an der Grundlinie stand und zum Aufschlag bereit war, den Schläger auf den Boden legte, den Leuten entspannt applaudierte und so zeigte, dass ihre Aufforderung bei ihm angekommen war. Nach so vielen unrühmlichen Geschichten, die das kapriziöse Pariser Publikum jedes Jahr aufs Neue schreibt, eine richtig gute Tat. Für Gaston Gaudio ein geschenkter Augenblick und der Schlüssel zum Turm seiner Träume.