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Archiv-Artikel

In Sylvias Welt

Der Amerikaner George Whitman verwirklicht in seiner Buchhandlung Shakespeare & Company in Paris eine soziale Utopie: Umgeben von tausenden Büchern leben bei ihm Schriftsteller und Künstler

Im Gegenzug helfen die Gäste mindestens eine Stunde am Tagim Buchladen aus

von STEFFI DOBMEYER

Hier zu wohnen, sagt John Marc, sei wie in einem Museum zu leben. Sein Bett steht in dem kleinen Antiquariat, das zur Buchhandlung gehört. Es ist umgeben von Regalen, Bücher stehen vom Boden bis zur Decke, an allen vier Wänden. Alte Bücher, wertvolle Bücher. Dazwischen: eine Matratze auf einem quietschenden Lattenrost, neunzig Zentimeter breit, zwei Meter lang. Tagsüber liegt eine grüne Decke darüber, sie ist alt und kratzt. Leute sitzen darauf, Kunden, Touristen, Besucher. Sie blättern und lesen in den Büchern, schauen sich um, staunen. Nachts liegt John Marc Young auf der Matratze. Dann wird das Antiquariat zu seinem Schlafzimmer.

Der 43-Jährige aus Charlston in South Carolina wohnt in der wohl bekanntesten Buchhandlung von Paris: Shakespeare & Company, in der Rue de la Bûcherie 37, südlich der Seine, direkt gegenüber von Notre-Dame. Eine englischsprachige Enklave in der französischen Metropole, die mehr ist als ein reiner Umschlagplatz für Bücher. Shakespeare & Company ist Buchhandlung, Bibliothek, Antiquariat und Hotel in einem – einzigartig weltweit. John Marc sitzt vor dem Eingang auf einer Holzbank. Das tut er oft, fast den ganzen Tag. Er wohnt gern hier, beobachtet die Menschen, die vorbeigehen. Viele kommen regelmäßig, mit ihnen unterhält er sich dann, erzählt ihnen von seinem Leben in einer Buchhandlung. Auf den drei Etagen von Shakespeare & Company leben bis zu fünfzehn Menschen zwischen Stadtführern, Geschichtslexika, Klassikern und Neuerscheinungen. Es sind meist Schriftsteller, Autorinnen und solche, die es sein und werden wollen. Sie schlafen kostenlos auf alten Betten, Matratzen und Holzbänken und helfen dafür mindestens eine Stunde am Tag im Buchladen aus. Bücher sortieren, einordnen, verkaufen. Kunden beraten und viele Fragen beantworten.

Eine „soziale Utopie“, nennt der 89-jährige Besitzer George Whitman die Lebensweise in seiner Buchhandlung. John Marc bezeichnet sie als „kommunale Monarchie“, mit George als König. Shakespeare & Company finanziert sich durch den Verkauf der Bücher, das Geschäft läuft gut.

1951 eröffnete George Whitman den Buchladen im nördlichen Quartier Latin. Er nannte ihn „Le Mistral“, änderte den Namen aber dreizehn Jahre später in Shakespeare & Company um. Als Vorbild diente ihm die gleichnamige Buchhandlung von Sylvia Beach, die Anfang der Zwanzigerjahre ein Stück weiter westlich existierte und seinerzeit als das literarische Zentrum Paris’ galt. Ein wichtiger Ort für werdende Schriftsteller schon damals, für amerikanische zumal: Ernest Hemingway, Scott Fitzgerald, Gertrude Stein, Sherwood Anderson. Aber auch die Karriere von James Joyce begann in den Räumen von Sylvia Beach. Sie war es, die Joyces „Ulysses“ erstmals in Paris veröffentlichte und ihn damit später auch in Amerika bekannt machte. 1941, Paris befand sich unter Nazibesatzung, musste Sylvia Beach ihren Buchladen schließen. Erst zehn Jahre später kehrte ihr literarischer Geist zurück. In Gestalt eines Vagabunden aus dem amerikanischen Boston, der nach Paris kam, um nach jahrelangem Herumreisen endlich sesshaft zu werden. George Whitman führte die Tradition fort und wurde mit seinem kleinen Buchladen an der Seine zum wichtigsten Pariser Treffpunkt der Beatgeneration in den Fünfziger- und Sechzigerjahren.

Allan Ginsberg schlief mehrere Monate auf einer von Georges Matratzen, und der Lyriker Lawrence Ferlinghetti kommt auch heute noch regelmäßig vorbei, wenn er in der Stadt ist. Georges Passion für Bücher, seine Großzügigkeit und seine Gastfreundschaft machten Shakespeare & Company zu dem, was der Buchladen auch heute noch ist: Ein Ort, der voll ist mit Büchern, voll mit Literatur, voll mit literarischem Leben. Auch heute kommen bekannte Schriftsteller und Autoren, vor allem aus Amerika und England. Mark Ford, zum Beispiel, oder der Lyriker C. K. Williams, der 2000 den Pulitzer-Preis gewann.

Shakespeare & Company ist auch ein Ort, an dem der Geist von George Whitman in jeder Ecke zu spüren ist. „Die Buchhandlung ist sein Leben“, erklärt John Marc und sieht wie zur Bestätigung zum Eingang von Shakespeare & Company, wo George Whitman steht und mit einer fahrigen Handbewegung die Menschen in sein kleines Reich einlädt. Unzählige Touristen kommen hier her, doch auch für viele Franzosen ist Shakespeare & Company die erste Adresse, wenn es um englische Literatur geht. „Ich kaufe alle meine Bücher hier“, sagt Marie. Die 34-jährige Medizinerin lebt seit ihrer Kindheit in Paris und kommt „mindestens ein Mal die Woche“ in den Buchladen.

John Marc Young wohnt bereits länger bei George als üblich. Vor sieben Monaten kam er nach Paris, wollte sich – wie so viele in dieser Stadt – als Künstler verwirklichen. In Amerika hatte der Sohn eines protestantischen Priesters als Lichttechniker beim Film gearbeitet, nebenbei Drehbücher geschrieben, Songtexte, Gedichte. Er zeichnet außerdem, malt und ist Musiker. Young lernte George im Buchladen kennen, fragte einige Tage später nach einem Job. George brauchte einen Elektriker und bot ihm eines seiner Betten im dritten Stock an – das war im November letzten Jahres.

Inzwischen ist Young in das kleine Antiquariat umgezogen, hier liegen seine Klamotten und Bücher unter der alten Couch. Der 89-jährige Whitman findet immer wieder kleine Aufgaben für seinen Lieblingsgast. „Wie alle anderen wollte auch ich hier nur ein paar Tage bleiben, vielleicht einige Wochen“, erzählt John Marc. Doch George bat ihn, zu bleiben. Das tut er nicht oft. Aus den beiden sind im Laufe der vergangenen Monate Freunde geworden, wenn es nach George Whitman geht, dann bleibt John Marc noch weitere zehn Jahre. Er sei inzwischen so etwas wie sein „persönlicher Assistent“, sagt George mit einem zahnlosen Grinsen.

Nach Amerika will John Marc sowieso nicht zurück, er ist glücklich in Paris. Und auch nach sieben Monaten noch fasziniert von diesem Ort, der so gar nicht in den Großstadttrubel zu passen scheint. Ein Labyrinth aus dunkelbraunen Holzregalen, Tischen und Kisten. Überall Bücher. Die meisten davon sind von englischsprachigen Autoren. Auf den terrakottafarbenen Steinfliesen stapeln sich die Klassiker von Shakespeare und Shelley, auf den Tischen liegen Neuerscheinungen, unter den Tischen Geschichtsbände. Eine Ordnung gibt es nicht, oft hilft nur stöbern oder fragen. George scheint jedes Buch gelesen zu haben, dass er verkauft. Dieser Ort, so sagt John Marc, sei „absolut inspirierend“ für einen Schriftsteller. „Umgeben zu sein von so vielen Büchern, hier lesen und schreiben zu können, zusammen mit anderen Künstlern, die die gleiche Leidenschaft für Bücher haben“ – das sei es, was ihn hier hält. Denn trotz aller Begeisterung für Literatur hat der 43-Jährige an manchen Tagen genug davon, seinen Schlafplatz täglich mit hunderten Menschen teilen zu müssen, die mit großen Augen und Fotoapparat durch das Antiquariat schlendern. Privatsphäre? Gibt es nicht. Keinen Ort, an den sich John Marc zurückziehen kann, keine Tür, die er hinter sich schließen kann. Das vermisst er. „Es ist schwer, hier in Ruhe zu arbeiten, zu lesen, zu zeichnen, an neuen Drehbüchern zu schreiben.“ Young flüchtet manchmal in die Bibliothek im ersten Stock: „Dort ist es wenigstens ein bisschen stiller.“

Wenn es ihm zu viel wird, wenn ihn die Fragen der Touristen nerven, wenn ihn der Straßenlärm vom Lesen abhält, dann nimmt er Reißaus und schläft einige Nächte bei Freunden. John Marc nennt es „die Flucht aus dem Museum“. Bei seinen Freunden kann er dann auch ins Bett gehen und aufstehen, wann er will, und ist nicht an die Öffnungszeiten der Buchhandlung gebunden, jeden Tag von 12 Uhr mittags bis Mitternacht. Das bedeutet für John Marc und die anderen Gäste: „Vor Mitternacht können wir nicht ins Bett und spätestens um 11 Uhr morgens geht George durch das Haus und weckt alle auf.“ In solchen Momenten gleicht die Buchhandlung einer Jugendherberge, mit einem Herbergsvater, der sich um seine Schützlinge kümmert.

Um den 20-jährigen Jared aus Kanada zum Beispiel, der an seinem ersten Roman arbeitet und nun auf einer der schmalen Holzbänke in der Bibliothek schläft. Um die 25-jährige Amerikanerin Martha, die ein Buch über Shakespeare & Company schreibt und seit vier Jahren immer wieder kommt. Um Joel, 31 Jahre alt und aus New York, der wegen einer Frau nach Paris kam und sich in die Stadt verliebte. Er schläft in der Abteilung für russische Autoren, hinten links im Buchladen auf einem alten Bett. Sie alle werden in einigen Wochen nicht mehr hier sein, dann macht George Platz für neue Gäste in seinem Haus, mehrere tausend waren es bis jetzt schon. Und so lange man ihn davon überzeugen kann, eine Passion für Bücher und Literatur zu haben, steht einer Nacht zwischen Marc Twain und Jack Kerouac nichts im Weg. George weist selten jemanden ab, so lange noch irgendwo ein Schlafplatz in seinem Haus ist.