: „Der Abstieg ist da“, sagt Frank Castorf
Im Ruhrgebiet kann man sehen, was passiert, wenn die Arbeit verschwindet – das Leben ein Freizeitpark. Dahinter wächst die Angst, was kommt, wenn es mit dem Wohlstand in Deutschland vorbei ist
taz: Herr Castorf, Sie waren in diesem Jahr erstmals Intendant der Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Erinnert Sie das Ruhrgebiet an die DDR?
Frank Castorf: Sicher. Den Umbruch merkt man hier schon extrem. Die Menschen, die ja früher hier in der Industrie arbeiten durften, Arbeit als Menschenrecht, das bricht weg, das gerät irgendwie in die Vergangenheit. Jetzt sucht man neu. Die Zechen und die vielen leer stehenden Industrieanlagen, das wird alles Kultur, Kultur, Kultur. Discotheken, Galerien, ein riesiger Freizeitpark. Das ist schon merkwürdig. Sein Selbstbewusstsein findet man nur über Arbeit, durch etwas, was außerhalb von einem selbst existiert. Was passiert, wenn das wegbricht? Durch Arbeit haben wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt. Was machen wir mit dieser vielen freien Zeit, wo Freiheit zur Freizeit konvertiert? Wenn meine ostdeutschen Brüder und Schwestern immer jammern, wie schlecht es ihnen geht, kann ich im Ruhrgebiet nur sagen: Die Arbeitslosenquote ist hier genauso hoch, der Abstieg ist da. Man merkt es an den Einkaufspassagen, im Unterschied zu Wien oder Hamburg.
Dieser Prozess wird weitergehen?
Davon kann man ausgehen.
Ist das unheimlich?
Wir hatten hier zu Beginn des Festivals eine spannende Diskussion mit Herrn Müntefering, eigentlich ein sehr sympathischer Mensch. Aber wenn Leute die Attacke reiten und sagen, so nicht mehr, wir wollen wissen, wie es weitergeht, kommen als Antworten nur Phrasen. Das kommt mir bekannt vor. Ich habe ja schon mal den Untergang eines Systems erlebt, das ist ein großer Vorteil, den ich habe gegenüber Westdeutschen. Auf die wichtigen Fragen gibt es keine Antworten. Wie darf ich am Ende meines Lebens leben? Aber genauso berechtigt: Brauchen wir nicht eine extreme Verjüngung, muss man nicht Menschen, die zwanzig sind, Mut machen, Kinder in die Welt zu setzen? Das können uns ja nicht alles die Türken abnehmen. Diesen Mut macht keine Politik. Nur der Status quo ist im Augenblick wichtig, Besitzstandswahrung über alles. Ohne eine Utopie leben, das ist langweilig. Das ist der Zustand im Augenblick. Wir glauben ja in Deutschland, dass wir dieses gelobte Land auf Ewigkeit so erhalten können, unser reiches Europa. Und das wird nicht funktionieren. Das ist aber auch gut so.
Was passiert, wenn eine reiche Gesellschaft ihren Wohlstand verliert? Wird sie brutal, depressiv, bösartig?
Fünf Millionen Arbeitslose haben keine Interessenvertretung, die sind aus unserem Kommunikationsnetz aussortiert, asozialisiert. Wir nehmen sie nicht wahr, also haben wir kein Problem mehr. Wir kommunizieren ja auch nur untereinander im Theater. Die paar aufgeklärten Menschen, die in die Theater gehen, die wissen, dass man einen Mensch, der ein bisschen anders aussieht, ein bisschen schwarz ist, nicht gleich und sofort totschlagen muss. Dieses Bewusstsein ist nicht mehr der alltägliche Zustand in unserer Gesellschaft. Das war für mich bei der Inszenierung „Gier nach Gold“ wichtig. Unsere kleinbürgerlichen Strukturen, alles, was wir so an Trieben sublimiert haben, wo wir sagen, wir sind andere Menschen, auch andere Deutsche geworden, diese verhunzte genetische Masse Deutschland, wir haben sie korrigiert – aber ich glaube, in Konfliktsituationen bricht dieser Sozialdarwinismus wieder aus. Dann werden wir sehr unangenehm, politisch, menschlich, zueinander.
Sind Sie ein Fremdkörper in diesem kleinbürgerlich-proletarischen Ruhrgebiet?
Ja, klar, wir sind ganz fremd.
Ist diese Fremdheit eine Chance gegenüber der Volksbühne, wo man meistens unter sich ist?
Ja, es hat eine andere Reibung. An der Volksbühne ist es ja oft wie Heimspiel, wo man der allgemeinen Übereinstimmung immer überdrüssiger wird. Das ist hier anders, das erinnert mich an alte DDR-Tage. Man muss sich anders durchsetzen, auch weil die Menschen hier sehr gerade sind – auch in der Ablehnung. Das hat eine andere Handfestigkeit. Tief im Westen. Der Bühnenbildner Bert Neumann hat gesagt, so tief im Osten, wie wir an der Volksbühne immer sind, muss man mal weit in den Westen gehen.
Sie haben zusammen mit Franz Wittenbrink für das Gewerkschaftspublikum der Ruhrfestspiele einen „Arbeiterliederabend ohne Verdi“ inszeniert. Das ist ein bisschen opportunistisch – so ein nostalgischer Ausflug in die Frühgeschichte der Arbeiterbewegung?
Das linke Liedgut war ja schön, weil sich da Menschen untergehakt haben, die Arbeit hatten, in der Gemeinsamkeit des Singens entstand eine Form von Protest. Das wird etwas archäologisch, wenn viele Menschen keine Arbeit mehr haben. Ton Steine Scherben oder Eric Burdon sind mir viel näher als „Brüder, zur Sonne zur Freiheit“. Es ist ja nicht umsonst, dass alle Welt jetzt wieder den Rio Reiser von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ entdeckt, nicht mehr nur den Rio Reiser von „Junimond“. Vielleicht ist es manchmal nur eine revolutionäre Phrase, wie so ein Che-Guevara T-Shirt, aber dass man überhaupt wieder anders denken will, dass man eine andere Wildheit versucht für sich zu forcieren, das ist mir nicht unsympathisch. Diese Dekadenz, in der wir im Theater wohl versorgt leben, die kotzt einen irgendwann so an, dass man wieder an das Schwarzbrot will.
INTERVIEW: PETER LAUDENBACH