MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING
: Im Schlamm

Peter Renner: „Griff in die Luft“, dtv, München 2003. 295 S., 15 €

Wenn es nach Martins Mutter ginge, hätten sie ihr Haus in dem Vorort von Ludwigshafen längst verkauft. Dr. Krauch zum Beispiel wirft gerne nach Feierabend noch die Kreissäge an, und der Höhepunkt ist, dass ihr Nachbar im Schillerweg Nr. 7 neuerdings mit einem Hubschrauber am Rand des Neubaugebietes landet. Es gehe nicht nur um den Lärm, erklärt sie ihrem Mann, sondern vor allem um das Unkraut in ihren Beeten: „Bist du auch nur ein einziges Mal auf die Idee gekommen, dass der ganze Wind von dem Hubschrauber jedes Mal die Samen in unseren Garten weht?“.

Peter Renners Debütroman „Griff in die Luft“ spielt im Jahre 1986, und in dem prominenten Nachbarn mit dem Hubschrauber ist unschwer der damalige Bundeskanzler zu erkennen. Martin hat seine Jugend also buchstäblich „im Schatten Helmut Kohls“ verbracht – mit Beamten vom Bundesgrenzschutz, die durch die Siedlung patrouillieren, und intimen Momenten, in denen der Kanzler seinen massigen Körper im Unterhemd präsentiert. Darüber hinaus könnte man allerdings zunächst den Eindruck haben, dass hier noch einmal der Versuch gemacht wird, einen Roman mit bekannten Mitteln an den Achtzigerjahre-Boom anzuschließen: „Zum Bleistift“, sagt Martin und räsoniert über die Fine Young Cannibals, während seine Freundin Anne sich über „BWLer“ und Mädchen mit MCM-Taschen lustig macht.

Dann aber fügen sich die nostalgischen Blödeleien und die Szenen aus der Vorstadtsiedlung, in der die Väter joggen gehen und die Mütter sich selbst verwirklichen, die tristen Industriebauten Ludwigshafens, der hysterische Plauderton des Erzählers Martin und der Kamikazetod seines Freundes Thomas zu einem ernüchternden Bild aus den letzten Tagen der alten Bundesrepublik. Peter Renner hat keine leichte Aufgabe bewältigt. In einer Mischung aus Faszination und Ekel hat er sich mühsam durch den Schlamm der Achtziger gewühlt – so wie Anne an einer Stelle „millimeterweise durch die Scheiße robbt“ und zu Martins Entsetzen erbarmungslos seine alphabetisch geordnete Schallplattensammlung durchsieht: ELO, Fleetwod Mac, Foreigner …

Rote Helden

Qiu Xialong: „Tod einer roten Heldin“. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Zsolnay, Wien 2003. 460 S., 23,50 €

Qiu Xialong ist ein chinesischer Dichter und Übersetzer, der in den USA lebt und sich nun auf das Schreiben von Kriminalromanen verlegt hat. „Tod einer roten Heldin“ setzt 1990 ein, ein Jahr nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die demokratische Bewegung in China hat einen schweren Rückschlag erlitten, die Liberalisierung des Marktes jedoch schreitet unaufhaltsam fort. Das merkt auch Inspektor Chen, der in Schanghai nach dem Mord an der „nationalen Modellarbeiterin“ Guan die Ermittlungen aufnimmt und eine Spur im luxuriösen Milieu der so genannten Prinzlinge verfolgt – der neureichen Söhne altgedienter Parteikader.

Obwohl Qiu den Täter leider viel zu früh als Hauptverdächtigen vorführt und die Handlung überhaupt etwas eindimensional verläuft, ist „Tod einer roten Heldin“ ein äußerst bemerkenswerter Kriminalroman: Er führt vor, wie die scheinbar starren Regeln des Genres vor einem anderen kulturellen Hintergrund plötzlich nicht mehr gelten. So ist es in einem amerikanischen Thriller geradezu selbstverständlich, dass die „politische Komponente“ eines Falls höchst anrüchig ist und „auf Anweisung von ganz oben“ meist unter Verschluss gehalten werden muss. In „Tod einer roten Heldin“ ist das nun genau umgekehrt. Ein Verbrechen aus Leidenschaft, ein bürgerliches Verbrechen also, kann die Parteiführung nicht dulden: „Uns muss klar sein, dass Genossin Guan vermutlich aus politischen Gründen ermordet wurde.“

Zudem haben wir uns daran gewöhnt, in einem Krimi eine einzelne Figur als moralische Instanz präsentiert zu bekommen – sei es den harten, aber gerechten Polizisten oder den gesetzlosen, aber dennoch ehrbaren Verbrecher. In den gesellschaftlichen Gesamtentwürfen Chinas von Konfuzius’ strengem Verweis auf Gesetz und Tradition bis hin zu Maos totalitärem Wahn ist allerdings nur wenig Platz für eine individuelle Moral, die dann auch im „Tod einer roten Heldin“ keine Rolle spielt. So gerät Inspektor Chen zumindest aus unserer Perspektive zu einer etwas blassen Hauptfigur, die sich ohne einen eigenen Standpunkt in einem Netz aus widersprüchlichen Erwartungshaltungen verstrickt.

Kein Wunder, dass Chen sich lieber in einen Lyrik-Band versenkt, als seiner Arbeit nachzugehen. Mit dieser bildungsbürgerlichen Ersatzhandlung befindet er sich allerdings in bester westlicher Gesellschaft. Man denke nur an all die einsamen Kommissare „unserer“ Kriminalliteratur, die in ihren Wohnzimmern Opernarien hören oder über Schachproblemen brüten.

Generation Cäsar

Ambros Waibel: „Imperium eins“. Verbrecher Verlag, Berlin 2003. 112 S., 12 €

Bei dem Wort „Imperium“ denkt man als Erstes an die „neue Weltordnung“, die Antonio Negri und Michael Hardt vor drei Jahren in ihrem Bestseller „Empire“ beschrieben haben: ein grenzenloser Herrschaftsapparat, der sich schonungslos alle Bereiche des menschlichen Lebens untertan macht. Negri und Hardt hatten damals davor gewarnt, ihr Empire als „eine Metapher anzusehen, an der zu zeigen wäre, welche Übereinstimmungen es zwischen der heutigen Weltordnung und den Imperien oder Reichen Roms, Chinas, der beiden Amerika und so weiter gibt.“

An dieser Stelle hat nun Ambros Waibel, Jahrgang 1968, trotzig eingehakt: In seinem Buch „Imperium 1“ versetzt er mittels fiktiver Briefe und Tagebucheintragungen zurück in die Zeit des Römisches Reiches und sucht dort nach der Gegenwart.

Wie funktioniert das? Unter der Überschrift „Generation Cäsar“ schreibt der Sohn Ciceros einen wütenden Brief an seinen Vater, in dem er ihm vorwirft, sein Kampf um die Republik sei nichts als eine „Geldangelegenheit“ gewesen. Er und seine Altersgenossen hätten genug davon: „Wir scheißen auf die Politik, treffen uns auf kleinen Gütern, singen, dichten und reden die ganze Nacht“, heißt es, und man darf darin wohl eine Beschreibung der Popliteratur der 1990er-Jahre sehen: „Wir schreiben über alltägliche Dinge, schöne Dinge, viel über Musik, viel Klatsch und Freiheiten, volkstümlich – aber natürlich ganz unpöbelhaft.“

Ambros Waibels Buch steckt voll von solchen anachronistischen Pointen, und es macht Spaß, sie aufzuspüren. So sinniert dreihundert Jahre nach dem Untergang der Republik ein Begleiter Julians, der sich als letzter römischer Kaiser zum Heidentum bekannte, angesichts des Christentums über eine „gemeinsame Idee“, die „all diese Völker und Staaten zu einer Welt verschmelzen“ würde – eine Idee, die mit einem Weizenfladen zu vergleichen sei, „der überall auf dem Erdkreis“ genau gleich schmeckt: Die neue Religion ordnet sich auf ihrem Siegeszug bereits in das Empire ein, das viele Jahrhunderte später seine Gläubigen in der ganzen Welt bei McDonald’s zum Abendmahl lädt. Unterhaltsam und illustrativ ist das allemal, das analytische Versprechen, das in seinem Titel anklingt, löst „Imperium 1“ allerdings nicht ein. Aber das ist natürlich eher gut. Ein „Empire“ reicht.

Beziehungen etc.

Mawil: „Wir können ja Freunde bleiben“, Reprodukt, Berlin 2003, 60 S., 12 €

„Wir können ja Freunde bleiben“ ist kein schöner Satz. Er hat schon manche zarte Romanze in eine schmerzhafte Erinnerung verwandelt, und für den jungen Helden in dem gleichnamigen Comic des Zeichners Mawil ist er sogar zu einem Lebensthema geworden. Die Tochter der Nachbarn, die in der Kirche immer wie ein Engel aussah, das Mädchen mit der Kapuzenjacke, die er bei einer Disco der Katholischen Jugend trifft, die Nette vom Zeltplatz an der Ostsee, mit der er sich „über Beziehungen und so“ super unterhalten kann, und dann natürlich die Designstudentin aus Spanien, die er in Berlin kennen lernt: Alle wollen nur das eine nicht.

Mawil, der eigentlich Markus Witzel heißt, war bisher mit Comics wie „Beach Safari“ und „Strand Safari“ rund um einen, nun, ja: Hasen namens Super-Hasi und dessen Kumpel Wolf Szaniec in Erscheinung getreten. Die Comicwelt nennt so etwas „funny“. „Wir können ja Freunde bleiben“ muss man dann wohl als „real“ bezeichnen. Denn auch wenn Figuren mit ihren grotesk großen Zähnen und den zerstruwwelten Haaren lustig aussehen, nimmt Mawil es ernst mit den Details. Alles stimmt: die verlegenen Gesten, der braune Samtanzug, der zur Kommunionsfeier angeschafft wird, der Möwenpickimbiss am Strand und die Künstlerpartys auf dem Dach eines Berliner Plattenbaus, bei denen immer nur die anderen Spaß haben.

Am genauesten allerdings trifft Mawil die zarten Grautöne der Melancholie, die sich wie ein Schleier über die Bilder legen, während sein Held gerade mal wieder mit einer Angebeteten auf einer Parkbank sitzt und darauf wartet, dass sie es endlich ausspricht: „Klingt jetzt vielleicht blöd …“, „Ich muss morgen früh raus …“, „I like you, but …“

Die Strafkolonie

Giorgio Agamben: „Idee der Prosa“. Aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Hürle. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003. 171 S., 12,80 €

Seit linke Theorie wieder schick ist, gehört der italienische Philosoph Giorgio Agamben zu ihren Stars. Agamben, der 1942 geboren wurde, wandte sich allerdings erst relativ spät der politischen Philosophie zu. Der Schüler Heideggers beschäftigte sich in seinen früheren Veröffentlichungen vor allem mit Sprache. In seinem Band „Idee der Prosa“ von 1985, der jetzt wieder auf Deutsch erschienen ist, beschreibt er in 35 kurzen Kapiteln das Schicksal des Menschen, der sich von den Zeichen nicht frei machen kann.

Für Agamben stammt die Sprache „aus einem Krieg und endet wieder im Krieg“, sie ist ein „Instrument der Rechtsprechung und Bestrafung“, das den Menschen zum Gefangenen macht. Nun hat Agamben selbst ihre Kerker und Folterkammern geduldiger als manch anderer durchwandert und dabei ein ungeheures philosophisches und literarisches Wissen angehäuft, das er in seinen eleganten Miniaturen jedoch nur behutsam aufblitzen lässt. Er hat gelernt, dass man die Sprache auch im Zitat nicht überwinden kann: „Eine Menschheit, die nur in Anführungszeichen sprechen könnte, wäre eine unglückliche Menschheit.“ Und eine glückliche Menschheit? Für Agamben bergen die Sprache und die Schrift auch eine Utopie. Er schwärmt von dem „stundenlangen Vagabundieren in Büchern“ und der Möglichkeit, das „Leben zu lesen“ – und er träumt von dem seligen Moment, in dem „alle Zeichen erfüllt, die Strafe des Menschen in der Sprache abgegolten“ ist.

Bis dahin werden wir hinter Gittern bleiben müssen, die Zeit in unseren Zellen aber werden wir uns mit Lektüre vertreiben. Agambens „Idee der Prosa“ darf von nun an in keiner Gefängnisbibliothek fehlen.