: Schreiben bis Männer
Von Ror Wolf über F. C. Delius bis zu Jochen Schmidt und Thomas Brussig: Auch in der Literatur schlägt man gern mal den gepflegten Pass
VON JÖRG MAGENAU
Fußball und Literatur gehören zusammen. Das weiß jeder, der das Spiel zu lesen versteht und die sprachschöpferische Kraft von Spielerinterviews schätzt. Literatur hat mit Leidenschaft zu tun und Leidenschaft mit Fußball, woraus sich alles Übrige zwangsläufig ergibt. In der Germanistik hat diese Erkenntnis sich noch nicht herumgesprochen. Sonst wäre kaum so viel von der Gruppe 47 die Rede, wo doch die Geburtsstunde der Nachkriegsliteratur ins Jahr 1954 zu datieren ist: „Das war der Anfang. Und so geht es weiter: / Von Deutschland und dem großen Geist von Spiez / nahm man zunächst nicht allzu viel Notiz. / Ungarn ist Meister. Deutschland Außenseiter.“
So beginnt mit Altmeister Ror Wolf jede ordentliche deutsche Fußballliteraturgeschichte. Am Anfang war das Wunder. So viel Optimismus gab es nie wieder: „Der Chef: man sieht wie er in Bern verschmitzt / hoch auf den Schultern seiner Männer sitzt.“ Bis heute wirkt das Ereignis nach, wird wieder und wieder erzählt, am schönsten vielleicht von Friedrich Christian Delius, dessen Geschichte einer schwierigen Kindheit in der Radioübertragung aus Bern gipfelt. „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ erzählt davon, wie aus einem fernen Sieg kindliches Selbstbewusstsein wächst. Ist Herbert Zimmermanns legendäres „AUS! AUS! AUS! Das Spiel ist AUS!“ nicht eigentlich fast schon ein Gedicht von Jandl?
Wer wüsste heute noch die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 fehlerfrei aufzusagen, gäbe es nicht die Literatur? „Wabra / Leupold Popp / Ludwig Müller Wenauer Blankenburg / Starek Strehl Brungs Heinz Müller Volkert“ dichtete der junge Peter Handke im bewährten 2-3-5-System gegen die Vergänglichkeit an. Schüler dieser Welt! Lernt Gedichte auswendig! Sowenig man zweimal in den selben Fluss steigen kann, steht zweimal dieselbe Mannschaft auf dem Platz. Schon deshalb muss man erzählen, wie es gewesen ist. Handke ist allerdings auch für den gröbsten Schnitzer der Literaturgeschichte verantwortlich. Alle Welt plapperte ihm seinen Titel „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ nach, bis endlich, vor ein paar Wochen, Oliver Kahn letztgültig erklärte, der Schütze habe Angst zu haben. Der Torwart hat nichts zu verlieren.
Der Torwart ist zweifellos die meistbesungene Figur. Seine Einsamkeit, seine Tragik, sein Heldenpotenzial sind größer als das aller anderen. „Bin i Radi, bin i König, alles andre stört mi wenig“, sang Torwart Radi Radenkovic und nahm damit schon in den Sechzigerjahren die Neue Deutsche Welle vorweg. Traditioneller, gefühlsbetonter dann Wencke Myhre mit ihrem Hit: „Er steht im Tor, im Tor, im Tor / und ich dahinter / Frühling, Sommer, Herbst und Winter / bin ich nah bei meinem Schatz / auf dem Fußballplatz.“ Wenig Beachtung wurde dagegen bisher dem Seelenhaushalt des Ersatztorhüters geschenkt. Man darf also gespannt sein auf Burkhard Spinnens demnächst erscheinende Erzählungen, in denen es unter anderem auch darum geht: Wie wird ein Mensch damit fertig, immer nur Reserve zu sein?
Der Trainer, der darüber entscheidet, wer spielt und wer nicht, ist die Schicksalsinstanz – bis er selbst entlassen wird. Vielleicht ist es kein Zufall, dass vor allem ostdeutsche Autoren sich dieser Figur und damit der Auseinandersetzung mit der Autorität gewidmet haben. Jochen Schmidt legte in einem kleinen, an Kafka angelehnten Text das Geständnis ab, elf Trainer gehabt zu haben. Thomas Brussig begnügte sich in „Leben bis Männer“ mit einem einzigen, eisenharten Hund, dessen Monolog an Ede Geyer erinnerte.
Und was ist mit den stillen Tragödien der Verletzten? Mit Nowotnys doppeltem Kreuzbandriss? Paul Freiers verdrehtem Knie? Sebastian Deislers Depressionen? Ungehobener Stoff für Romane – oder wenigstens der erhabene Ausklang eines Sonetts von Ludwig Harig: „Homerisch war der Streit. In heißer Kontroverse / zersprang das Fußgelenk, riss die Achillesferse.“ Da wird so mancher froh sein, wenn wieder einmal alles vorbei ist, nach dem unvermeidlichen Endspiel, das der Lyriker Arnfried Astel auf drei Zeilen unterbrachte: „Die Straßen sind leer. / Man könnte jetzt / Fußball dort spielen.“