In aller Unbescheidenheit

Was erwarten die Deutschen von ihrer Mannschaft bei der EM? Wenigstens drei Vorrundenspiele, die sie nicht kampf- und orientierungslos verloren geben – wie voriges Wochenende beim 0:2 gegen Ungarn

VON MATTI LIESKE

Der Favorit für die Fußballeuropameisterschaft? Klar, die Deutschen! Sind schließlich Vizeweltmeister. Oder etwa nicht? Haben vor zwei Jahren nur gegen Brasilien verloren, alle Mannschaften Europas hinter sich gelassen. Und spielen in Portugal in einer Gruppe mit lauter Teams, die 2002, bei der WM, nicht einmal dabei waren. Die Holländer, weil sie an jenen Iren gescheitert waren, mit denen die Deutschen dann in Japan kurzen Prozess machten, zumindest beinahe. Die Tschechen, weil sie – Netzer, merke auf! – bei den isländischen Käsefüßen verloren hatten. Und die Letten, weil sie erst seit einem Jahr oder so überhaupt Fußball spielen, metaphorisch betrachtet. Für eine Turniermannschaft vom Schlage der Völler-Truppe sollte diese Gruppenphase doch ein Klacks sein. Und in den k.o.-Spielen, das wusste man schon zu Herbergers Wunderzeiten, ist ja alles möglich.

Aber auch im Fußball gilt der Prophet am wenigsten im eigenen Land, weshalb man für obige Einschätzung in hiesigen aufgeklärten Fußballexpertenkreisen nichts als Hohn und Spott ernten dürfte. In anderen Ländern allerdings, vor allem solchen, die sich selbst gute Chancen bei der EM ausrechnen, trifft man eher auf sorgenvolles Stirnrunzeln.

Während vor der WM nur Leute, die sehr weit weg von Europa den Fußball verfolgen, wie etwa Diego Maradona, die Deutschen als Titelaspiranten im Munde führten, vergisst diesmal kaum jemand, auch sie unter die Favoriten einzureihen. Dies, obwohl das DFB-Team seit den schönen Tagen von Japan und Korea gegen jeden wirklich guten Gegner verloren und gegen manch weniger guten ein fußballerisches Martyrium durchlitten hat.

So lässt sich als Resümee der bisherigen Rudi-Völler-Ära festhalten, dass die Deutschen vielleicht nicht zu den Großen des Weltfußballs gehören, aber zumindest ihren alten Ruf eines stets ernst zu nehmenden Widersachers bei Turnieren restauriert haben. Man hält sie nicht unbedingt für besser, als sie sind, aber man traut ihnen seit dem Endspiel von Yokohama wieder zu, bessere Resultate zu erreichen, als ihnen zustehen. Schmach und Stigma der EM 2000 sind ausgelöscht.

Was waren das für dunkle Tage des deutschen Fußballs damals. War der Glanz des WM-Triumphs von 1990 mit Viertelfinalschlappen bei den folgenden Turnieren im Weltmaßstab nachhaltig verblasst, hatte der europaweit als Skandal empfundene Titelgewinn bei der EM 1996 immerhin die Mär von der deutschen Kunst des unverdienten Siegens aufgefrischt. Das hatte auf der einen Seite eine selbstzufriedene Stagnation des hiesigen Fußballs in Liga und Auswahlteam zur Folge, die in der Bestellung Erich Ribbecks zum Bundestrainer gipfelte, zum anderen hielt der Reputationszuwachs nicht lange vor.

Im selben Maße, wie die Qualität der deutschen Liga drastisch hinter die der spanischen, englischen, italienischen oder französischen zurückfiel, sich ausländische Bundesligaspieler in ihren Nationalteams verspotten lassen mussten, weil sie nicht wussten, was eine Viererkette ist, schwand der Respekt vor dem DFB-Team. Die EM und vor allem das deprimierende 0:3 gegen die portugiesische Reserve waren dann der vermeintliche Nagel zum Sarg der alten Theorie, dass man die Deutschen schon in Grund und Boden spielen müsse, um in wichtigen Spielen auch nur die Spur einer Siegchance zu haben.

Eine fatale Entwicklung, denn gerade die Angst vor dem Kampfgeist und Siegeswillen der deutschen Mannschaft hatte in vielen Fällen dazu geführt, dass diese am Ende tatsächlich siegte. War die magische Aura des Riesen erst mal verflogen, konnte sich plötzlich jeder Zwerg eine Chance ausrechnen und diese beim Schopf ergreifen.

Was waren das damals für Tage der Panik im deutschen Fußball. Als einzig möglicher Retter erschien ein Trainerrasputin namens Christoph Daum. Betonköpfige Altfunktionäre vergaßen ihre übliche Hatz gegen zu viele Ausländer in der Bundesliga und wollten plötzlich alle einbürgern. Andere entdeckten auf einmal den Nachwuchs, entwarfen Förderungskonzepte und suchten das Heil in der Gründung möglichst vieler Perspektivteams. Es wäre jedoch nicht Deutschland gewesen, wenn man am Ende nicht alles wieder auf eine Personalie reduziert hätte: Rudi Völler, der Notnagel und Platzwart Daums als ultimativer Glücksfall.

Vergleicht man den rettenden Engel von damals mit dem Teamchef von heute, so lässt sich konstatieren, dass er lediglich äußerlich in etwa derselbe geblieben ist. Ansonsten hat sich der pragmatische, optimistische, liebe Kerl, der es allen recht machen wollte und eher für die gute Laune zuständig war, zu einem veritablen Teamchef entwickelt. Zäh, souverän, gelegentlich zornig, mit leichtem Hang zur Bissigkeit. Das merkt auch das Fußballpublikum, dem die kumpelhaften „Ruuudi“-Rufe schon seit längerem nicht mehr so leicht über die Lippen kommen wie früher. Aus der knuddeligen Tante Käthe ist ein respektabler Herr Völler geworden, aus dem Vogts-Ribbeck’schen Sauhaufen wieder eine Fußballmannschaft.

Was sind das jetzt für bizarre Tage des deutschen Fußballs. Vor der EM 2004 herrscht große Ratlosigkeit darüber, wo das Team eigentlich steht. Da wird selbst von Kommentatoren, die ihre Sinne normalerweise beisammenhaben, ein halbwegs gelungenes Länderspiel plötzlich zur Geburt einer Gigantenmannschaft hochgejubelt, da wird ein Remis auf Island zum Offenbarungseid stilisiert, kurze Zeit später ein nüchtern erkämpfter Sieg gegen denselben Gegner als Wiedergeburt gefeiert. Mal ist die Mannschaft ein Gurkenverbund auf dem Niveau von Trinidad und Tobago, im nächsten Augenblick ein legitimer Herausforderer Frankreichs und Brasiliens.

Die Maßstäbe, die vor vier Jahren in Belgien und Holland zum Teufel gingen, sind auch heute noch nicht wiederhergestellt, einen gewissen Überblick behält nur der Teamchef. Der ist sicherlich gern Vizeweltmeister geworden, doch schon kurz nach dem Schlusspfiff von Yokohama wurde deutlich, dass ihm der unverhoffte Erfolg so richtig nicht ins Konzept passte.

Es hatte sich ja zuvor eine seltene und wohltuende Form von Bescheidenheit breit gemacht in deutschen Fußballkreisen. Nichts von der üblichen Großmannssucht im Vorfeld solcher Turniere, dafür das Bewusstsein, zu jenen Mannschaften zu gehören, die froh sein dürfen, wenn sie ausscheiden, ohne sich übermäßig zu blamieren. Die vielleicht, wenn alles optimal läuft, die ein oder andere Überraschung schaffen können. Eine Mannschaft, wie sie Schweden, Mexiko oder Südafrika nach Asien geschickt hatten, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Der Vizeweltmeistertitel wischte all das hinweg, weshalb Rudi Völler hinterher nicht müde wurde zu erklären, dass der zweite Platz bei dieser WM keinesfalls bedeute, dass man die zweitbeste Mannschaft der Welt habe. Genauso gut hätte er behaupten können, dass der Ball ein Würfel ist. Während die Spieler sehr schnell auf den Boden der Realität zurückgeholt wurden, war das in der medialen Öffentlichkeit nicht der Fall.

Die Begehrlichkeiten, die die WM weckte, sind ungebrochen. Mit den Besten soll man nicht nur mithalten, sondern gefälligst gegen sie gewinnen, die vermeintlich Kleinen gilt es zu dominieren, zu demütigen, wegzuhauen. Niederlagen sind schändliche Fehltritte, Unentschieden oder knappe Siege gegen nichtswürdige Gegner beleidigende Ausrutscher. „Eine deutsche Mannschaft muss solche Gegner beherrschen“, tönt Günter Netzer stellvertretend für alle Gestrigen, deren Demut nur einen Sommer währte.

In all diesem Wirbel bewahrt Rudi Völler (meist) bemerkenswerte Ruhe. Besonnen mildert er Kritik nach Misserfolgen, ohne die Defizite zu leugnen, entschieden dämpft er die Euphorie nach Erfolgen. Die bisherige Bilanz seiner Arbeit ist, ausgehend von der verfahrenen Situation bei seiner Amtsübernahme, imponierend. Schnell hat er es geschafft, sein Team taktisch auf ein Niveau mit dem Rest der Welt zu bringen, anders als seine Vorgänger scheut er sich nicht, junge Spieler zu berufen und ihnen Verantwortung zu übertragen. Damit hat er auch die Legende vom fehlenden Nachwuchs widerlegt. Für fast jede Position gibt es begabte Talente, die ihre Vorgänger problemlos ersetzen können, ohne diese allerdings an Qualität zu übertreffen.

Was dem deutschen Team fehlt, um sich über den europäischen Durchschnitt erheben zu können, sind zwei, drei Spieler von internationalem Spitzenformat, die einen Qualitätssprung der ganzen Mannschaft bewirken können. Zu dieser Kategorie gehört nicht Michael Ballack und wohl auch nicht mehr Oliver Kahn, der diese Rolle in Japan und Korea einige Partien lang ausfüllen konnte. Solche Leute können bei dieser EM vor allem Portugal, Frankreich, Niederlande, Tschechien, Italien oder England aufbieten.

Rudi Völler weiß unter diesen Umständen sehr gut, dass seine Mannschaft nach menschlichem Ermessen in der Gruppe D an Tschechien und Holland scheitern müsste. Ihr jede Chance abzusprechen, verbietet sich jedoch nach dem Verlauf der letzten WM von selbst. Egal ob es am Ende ein Vorrundenaus wie vor vier Jahren sein wird, ein verlorenes Viertel- oder Halbfinale, eine Niederlage im Endspiel oder der Titel, ein Urteil wird in aller Bescheidenheit immer Gültigkeit haben: Viel mehr war nicht drin.

MATTI LIESKE, Jahrgang 1952, berichtet für die taz von der EM und hofft, dass die Portugiesen nicht nur wie gewohnt schön spielen, sondern endlich auch mal einen Titel holen