: Alkohol als Schutzbehauptung
Prozess um den so genannten Ehrenmord an Morsal Obeidi: Psychiatrische Gutachterin bescheinigt dem angeklagten Bruder verminderte Schuldfähigkeit wegen narzistischer Persönlichkeitsstörung
VON KAI VON APPEN
Die psychiatrische Gutachterin Marianne Röhl hat im so genannten Ehrenmord-Prozess um die Tötung der Deutsch-Afghanin Morsal Obeidi dem angeklagten Bruder Ahmad-Sobair eine verminderte Schuldfähigkeit eingeräumt. Der 24-Jährige habe sich zum Tatzeitpunkt womöglich im Zustand einer „affektiven Erschütterung“ befunden. „Es lag eine narzistische Persönlichkeitsstörung und -krise vor.“
Röhl attestierte dem Angeklagten, der am 15. Mai vorigen Jahren seine kleine 16-Jährige Schwester Morsal wegen ihres westlichen Lebensstils mit 23 Messerstichen getötet hatte, im Rahmen ihrer „interkulturellen Begutachtung“, eine schwierige Kindheit. Seine Kleinwüchsigkeit in der Pubertät – die mit Hormonen behandelt worden sei – hätte eine „Selbstwertproblematik“ zur Folge gehabt. Er sei zudem vom Vater oft geschlagen worden, so dass er sich von der Familie abgewendet habe und der Verwahrlosung nahe war. „Es gab nur noch Spaß, Saufen, Kiffen, Koksen, Mädchen flach legen und Bordelle besuchen“, berichtet Röhl. Auch die Gewaltexzesse hätten zugenommen, doch das „Macho-Gehabe“ bei Konflikten vor Discos „Alter, was guckst du so blöd“, hießen innerlich nichts anderes als: „Ich tauge nichts.“
Es sei nicht selten, dass Migranten in einer Parallelwelt leben: „Migranten sprechen deutsch, aber es gibt eine innere Mauer“, so Röhl. So sei auch zu verstehen, dass es für Obeidi nach seinen soziokulturellen Vorstellungen völlig normal sei, dass er 2007 zwangsverheiratet worden sei, obwohl er eine Freundin in Deutschland gehabt habe. „Das musste ich für meine Mutter tun“, habe er gesagt. Zwischen Morsal und Ahmad habe nach Auffassung Röhls eine innige „Täter-Opfer-Beziehung“ bestanden. „Er hat seine Schwester geschlagen, er hat sie aber dennoch geliebt“, so Röhl. „Sie hat ihn geliebt, sie hat ihn aber auch gehasst.“
Mehrere Faktoren kamen beim Tatzeitpunkt zum tragen: „Die Steuerungsdefizite waren ganz erheblich“, zudem habe ein „soziale Druck“ auf ihm gelastet. „In seiner Kultur hat der Bruder die Aufsicht über die Schwestern, wenn sie geschlechtsreif werden“, so Röhl. Ferner sei Morsal auf dem Weg gewesen, sich von der Familie zu trennen, den auch er gegangen sei. Hinzu sei gekommen, dass er eine Haftstrafe antreten musste. Diese „narzistische Persönlichkeitsstörung“ hätte dann zur „Explosion“ durch die Kränkung und verstärkt durch den vielen Alkohol geführt, als Morsal auf seine Frage entgegnet habe, ob sie „anschaffen“ gehe: „Das geht dich einen Scheißdreck an.“
Ob allerdings überhaupt der Faktor Alkohol eine Rolle gespielt hat, ist weiter unklar. Obeidi hatte angegeben, am Tatabend eine Flasche Wodka konsumiert zu haben. Die Gutachterin Nadine Wilke von der Rechtsmedizin stellte am Freitag jedoch die Alkoholangaben in Frage. Beim Konsum einer Flasche Wodka hätte Obeidi zur Tatzeit 3,2 Promille gehabt.
Doch am nächsten Tag bei der Blutprobe war keinerlei Restalkohol festgestellt worden und auch der Taxifahrer, der Obeidi in der Tatnacht transportierte, hatte keinerlei „Ausfälle“ bemerkt. „Das passt alles nicht zusammen“, sagt Wilke. Staatsanwalt Boris Bochnik kündigte an, dass Gutachten Röhls Dienstag im Detail zu hinterfragen.