: Die amerikanische Nacht
Die Stunde der Wahrheit schlägt im Gerümpelkeller: Von den Dramen Tennessee Williams’ haben viele Filmregisseure profitiert – etwa Richard Brooks mit der nun wieder im Kino zu sehenden Verfilmung von „Die Katze auf dem heißen Blechdach“
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Noch bevor man die Geschichten erinnert, sind die Bilder aufgetaucht: von den wohl definierten Muskeln männlicher Oberkörper und von Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie, die Frauen, sind letztendlich die Stärkeren in den vielen Verfilmungen der Dramen von Tennessee Williams. Aber ihre Stärke liegt zuerst verborgen unter den wiederholten Wendungen der Geschichten, die sie nach und nach von sich preisgeben. Wie die Kleider, die sie – unentwegt redend – wechseln: Vivian Leigh in „Endstation Sehnsucht“ (1951), Elizabeth Taylor in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ (1958), Geraldine Page in „Süßer Vogel Jugend“ (1961).
Man liebt die Frauen vielleicht am Ende der Filme, aber nie am Anfang. Am Anfang gehört die Attraktivität den Männern, ihren schönen Muskeln und traurigen Augen. Ob sie nun Marlon Brando, Paul Newman oder Burt Lancaster heißen. Sie alle spielten mindestens zweimal Hauptrollen in den Verfilmungen der Dramen von Tennessee Williams. Paul Newman erhielt für den Brick in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ seine erste Oscar-Nominierung, „Endstation Sehnsucht“ brachte Marlon Brando nach Hollywood.
So ist der Theaterautor Tennessee Williams selbst zu einem Teil der Kinogeschichte geworden, und die Bilder der Filme besetzen den Stoff seiner Stücke mit einer Vehemenz, die jeder Inszenierung auf dem Theater zu schaffen macht. Ein älteres Theaterlexikon begründet das Lob des Dramatikers ausgerechnet mit seiner Filmferne: „Die Filmindustrie hatte bereits die meisten jungen dramatischen Talente Amerikas aufgespürt und in ihrer Phantasie durch die hoch bezahlte Maßarbeit in den vier Wänden der Scriptwriterzellen in den Studios blockiert“, heißt es, „während Tennessee Williams Einakter für Studentenbühnen schrieb und das Handwerk des Bühnenautors zielbewusst erlernte.“
Selbst der Regisseur Frank Castorf, der an der Volksbühne Berlin „Endstation Amerika“ nach „Endstation Sehnsucht“ und in Wien „Forever Young“ nach „Süßer Vogel Jugend“ herausbrachte, hielt sich, wie der Dramaturg Carl Hegemann erzählt, den Hollywood-Klassikern fern. Er wollte sie in der Vorbereitungszeit der Inszenierungen nicht sehen. Es reicht ihre Präsenz im Gedächtnis der Zuschauer. Dabei hat Castorf eines der Filmmotive, das Eindringen der Kamera in die intimen Räume von Schlaf- und Badezimmern, das fortgesetzte Kreisen um die unausgesprochene Sexualität als Kern der Konflikte, fortgesponnen und als Brücke in eine Gegenwart benutzt, die von der medialen Präsenz des Körpers geradezu besessen scheint.
In Psychologisierung und Naturalismus liefern Williams’ Dramen über Gesellschaft, Familie und Wahrheit den perfekten Filmstoff. An ihnen ist das Kino zum besseren Theater geworden, dem das Theater selbst nur noch mit Dekonstruktion oder Vergessen begegnen kann. In Williams-Verfilmungen verbünden sich das intellektuelle, analytische Spiel des Method-Acting New Yorks mit der sumpfigen Aura der Südstaaten. Stuckvillen, Säulen vor dem Haus, dezente schwarze Dienstboten, unerträgliche Hitze, Ventilatoren, Vorhänge, die sich im Wind bewegen – das gehört zum Setting.
Schwache Männer, starke Frauen: In „Die Katze auf dem heißen Blechdach“, die in der Regie von Richard Brooks durch den kleinen Berliner Verleih Neue Visionen in restaurierten Filmkopien wieder ins Kino gebracht wird, sind das Brick und Maggie. Bricks größte Schwäche ist die Angst vor der Schwäche, die ein Mann nicht zeigen darf, und erst in einer Nacht, in der er sowohl die Liebe seiner Frau wie die seines Vaters aufs Spiel gesetzt und fast verloren hat, kann er von seiner Angst zum ersten Mal reden. Von dem Sportler, der er war, ist in dem alkoholisierten Wrack, als das er durch den Film taumelt, immer noch ein Abglanz gegenwärtig. Am Anfang springt er betrunken über Hürden und verstaucht sich den Knöchel – dann sieht man fast 108 Film-Minuten lang seinem entschlossenen Abstieg in die Selbstzerstörung zu. Es wurde den amerikanischen Zensurbehörden angelastet, die latente Homosexualität der Rolle aus dem Drehbuch getilgt zu haben; Newmans Interpretation aber lässt sie sehen, wenn man will.
Seine Gegenspielerin ist Elizabeth Taylor als seine Ehefrau Maggie, „die Katze“. Alles an ihr ist spitz. Sie ist spitzzüngig, spitz geschnürt, mit spitzen Schuhen, spitzbusig, provokativ. Sie redet und redet. Das nervt den Zuschauer anfangs nicht weniger als ihren Mann, bis man merkt, dass an ihr allein die ganze Arbeit hängen bleibt, tief sitzende Konflikte der Familie frei zu schaufeln. Schon Bricks Vater litt an der Unmöglichkeit, Liebe einzugestehen. Stattdessen hat er über der Verdrängung der Gefühle ein System von Unterdrückung und Macht aufgebaut. In der einen Nacht aber, von der das Drama erzählt, erhalten dank Maggies Hartnäckigkeit alle eine Chance, sich aus den selbst verschuldeten Fesseln des falschen Scheins zur Wahrheit durchzuarbeiten. So kann schließlich der Sohn, der ein Loser ist, den Vater, der stolz seinen Erfolg als Patriarch und Plantagenbesitzer vor sich her trägt, von der Lebenslüge befreien, dass ein solcher Erfolg den Preis der Einsamkeit wert ist. In diesem Eingeständnis des Selbstbetrugs hilft der Verlierer dem Gewinner, die Tugend der Liebe zur Wahrheit wiederherzustellen.
Das ist ein sehr amerikanischer Plot – wie in fast allen Dramen von Tennessee Williams. Die Stunde der Wahrheit schlägt in einem Keller voll Gerümpel, Mitbringsel einer Europa-Reise, sentimental und unpraktisch und dennoch Zeichen einer nie gestillten Sehnsucht nach der Verwurzelung in der Vergangenheit. Bricks Vater stammt von einem besitzlosen Tramp ab und baut dagegen sein Leben lang ein Imperium auf. Die Beschäftigung mit der familiären Vergangenheit als Schlüssel zur Identität: Das hat nicht nur Tennessee Williams bei Freud gelernt. Die Psychoanalyse ersetzt die Funktionen, die der Bezug zur Antike in der europäischen Moderne einnahm, in den amerikanischen Film- und Theaterstoffen. Plantagenbesitzer und Ölmagnaten treten an die Stelle der Königsväter, gegen die die Söhne ein neues Recht einsetzen müssen. Und was sich in der familiären Dynastie ereignet, ist zugleich ein Modellfall für die Politik. Dieser Glaube, politische Befähigung am familiären Verhalten ablesen zu können, prägt ja bis heute Amerikas öffentliche Bilder.
Auch „Süßer Vogel Jugend“ wurde von Richard Brooks mit Paul Newman verfilmt. Wieder steht ein alter dem jungen Mann gegenüber; wieder wird das Bild der amerikanischen Tugenden durch die Figur des Verlierers gerettet. Für die Rolle des alten Finley erhielt Ed Begley einen Oscar: ein ausgemachter Widerling, Ölmagnat und Familientyrann, mit einem gewalttätigen neurotischen Sohn und einer Tochter, die er für seine politischen Interessen missbraucht. Nach außen verkörpert er Macht, Erfolg, Ehrlichkeit, nach innen Korruption und Heuchelei. Eingerissen wird diese Fassade durch ein Bündnis der Außenseiter, die mehr oder weniger den Drogen, der Prostitution und dem Showbusiness ergeben sind.
Den größten Verlierer, Chance Wayne, spielt wieder Paul Newman: aufgebrochen nach Hollywood, um Filmstar zu werden, bringt er nur eine Karriere als braun gebrannter Tröster einsamer Damen zurück. Zwischen ihm und Finleys Tochter entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die dem Alten den Wahlkampf zu versauen droht. Chance Wayne soll verschwinden.
Seine unzuverlässige Verbündete ist die beeindruckendste Figur dieses Films, die alternde rauschgiftsüchtige Diva Alexandra del Lago (Geraldine Page), zynisch mit ihrem Egoismus und mit ihrem Appetit auf junge Männer kokettierend. „When monster meets monster, one monster has to give way and that will never be me“, sagt sie, und dies gehört zu ihren schönsten Sätzen. Sie ist das Gegenbild des Selfmade-Man, der Gouverneure und politische Posten kauft: unmoralisch, egozentrisch, selbstsüchtig, selbstironisch.
Sie verkörpert all das, was Blanche Dubois (Vivian Leigh) in Elia Kazans „Endstation Sehnsucht“ immer nur zu sein behauptet. Blanche: dieses parfümierte Leben in Rüschen und Tüll, lichtscheu und immer nur im Halbschatten. Sich der Wirklichkeit des Misserfolgs zu stellen, hat sie nie fertig gebracht, und das treibt sie zuletzt in den Wahn. Sie beharrt auf dem Recht, die Illusion einer untergegangenen Welt zu leben. Dadurch ist sie den ständigen Anfeindungen ihres Schwagers Stanley Kowalski ausgesetzt (Marlon Brando). Der trägt seine proletarische Tüchtigkeit wie seine Potenz vor sich her. Blanche und Stanley konkurrieren darum, das wahre Amerika zu verkörpern, aber wahr sind nur ihr Konflikt und ihre Ignoranz gegenüber dem Konzept des anderen.
Es gibt eine Diva, die auf der Kino-Leinwand sowohl Alexandra del Lago wie Blanche Dubois verbunden ist. In Pedro Almodóvars „Alles über meine Mutter“ (1999) spielt Marisa Paredes den Bühnenstar Huma Rojo, der Abend für Abend als Blanche Dubois auftritt. „Alles über meine Mutter“ ist voller Referenzen an Tennessee Williams und voller Spiegelungen seiner Motive: die Hysterie als Strategie der Frauen, die Attraktivität des homosexuellen Mannes, die Suche nach dem Ich in den Wurzeln der Familie, das Leiden im Kampf um die Wahrheit.
Gestrichen ist allerdings das Vertrauen, jemals eine verbindliche Fassung der Wahrheit freilegen zu können. Frauen und Männer, die bei Tennessee Williams unglücklich in ihren Rollen werden, haben bei Almodóvar endgültig deren Rahmen verlassen, indem sie viele kleine Eingriffe und Verschiebungen vorgenommen haben. Pedro Almodóvars „Alles über meine Mutter“ ist wohl der kräftigste Beweis für das Überdauern der Figuren aus den Dramen von Tennessee Williams und für ihre Transformationen in der Film- und Theatergeschichte.