: „Religion kann den Unsinn mindern“
Religion gibt Menschen in einer neuen Umgebung Heimat und Halt. Aber ist der Glaube an einen Gott in der Einwanderergesellschaft eine Hilfe zur Integration, oder blockiert er sie? Ein Streitgespräch zwischen Vertretern des Staates, des Islam und des Judentums
INTERVIEW SEMIRAN KAYA
taz: Viele Menschen leiden in der globalisierten Welt zunehmend unter Orientierungslosigkeit. Was bedeutet Religion in diesem Zusammenhang?
Klaus Lefringhausen: Religion hat die wesentliche Funktion, Menschen, die durch Migration in fremder Kultur orientierungslos geworden sind, wieder zu stabilisieren, und die Funktion, den kulturellen Zusammenhang von Familien zu wahren, da diese in der Auseinandersetzung um Grundwerte und Erziehungsstile sonst auseinander fallen würden. Religion hat also einen bewahrenden Charakter. Das Problem ist, dass Religionen nur bewahren und nicht dazu führen, dass sich der Glaube im neuen Umfeld auch bewährt. Wenn Religionen vom Bewahren zum Bewähren übergehen würden, wäre alles leichter.
Bekir Alboga: Sowohl im Rahmen der Globalisierung als auch in dem der Säkularisierung ist die Religion für viele das einzige Zuhause, das ihnen die Bewahrung ihrer religiösen Identität ermöglicht.
Lefringhausen: Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass Religion ein Stück mitgebrachter innerer Heimat ist.
Herbert Rubinstein: Über die Religion gibt es Möglichkeiten, Ziele zu erreichen, die man losgelöst von der finanziellen Welt nicht erreichen kann.
Gibt es auch so etwas wie eine offene Identität? Eine, die über die engen Grenzen der Religionsgemeinschaft hinausweist?
Lefringhausen: Hier stellt sich eben die Frage: Ist Religion Integrationsbrücke oder Identitätswächter?
Alboga: Sie ist beides. Wenn man die eigenen Wurzeln und die Religion kennt und sich sicher fühlt, dann wackelt die religiöse Identität auch nicht, wenn ich eine Integrationsbereitschaft signalisiere oder in Dialog trete.
Lefringhausen: Sie würden sagen, Religion schafft eine Ichstärke, und die befähigt zur Integration?
Alboga: So kann man es sehr schön ausdrücken.
Und wie integrativ ist Religion, wenn bis heute Imame aus der Türkei, die keinerlei Bezug zur hiesigen, aufgeklärten Gesellschaft haben, in die Communities geschickt werden?
Alboga: Manche Muslime bringen eine integrative Fähigkeit mit, andere können sie sich aneignen. Erst nach einem gewissen Prozess konnte sich unser Verband ditib ein klares Integrationskonzept vorstellen. Auch Institutionen leben durch Menschen, die Produkte ihrer religiösen Überzeugung und Gesellschaft sind. Das ist ein sich immer wieder verändernder Prozess.
Lefringhausen: Ich glaube, an dieser Stelle haben wir als Mehrheitsgesellschaft auch erhebliche Fehler gemacht: Im christlich-islamischen Beziehungsgeflecht haben wir mehr defensiv als kooperativ aufeinander reagiert. Wir haben die Muslime nicht eingeladen, um an der Lösung dieser gemeinsamen Zukunftsaufgaben mitzuwirken. Hier haben wir einen großen Nachholbedarf.
Rubinstein: Wir müssen davon ausgehen, dass wir in Deutschland sind. Auch unsere Rabbiner beachten das deutsche Gesetz. Das sollten auch die Imame tun, die hier eine Zulassung bekommen. Denn unsere Gesellschaft braucht einen offenen Blick. Deshalb schulen wir in NRW gezielt Imame in Gesellschaftskunde.
Was soll Religion Ihrer Meinung nach vermitteln?
Rubinstein: Wenn wir an die Ursprünge zurückgehen, sind Glaube und Religion zwei verschiedene Sachen. Den Glauben an Gott haben auch sehr viele, die gar keine Religion haben. Religion ist für uns eine Metapher, ein Mittel. Wir haben in dieser globalisierten Welt nicht mehr viele Werte. Über die Werte der Religionen aber können wir wieder zu uns finden.
Lefringhausen: Es geht nicht um die Arbeit an einer religiösen Welt, sondern darum, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Religionen ihre Akzeptanzkrise nur überwinden können, wenn sie der Gesellschaft zeigen, dass sie zur Lösung von Zukunftsaufgaben etwas beitragen können. Religionen müssen Abschied nehmen vom Rechthaben und zeigen, dass sie die Gesellschaft zukunftsfähiger machen, als sie ohne Religionen wäre.
Alboga: Und sie müssen sich damit zufrieden geben, dass sie nur ein Segment der pluralistischen und säkularen Gesellschaft sind.
Lefringhausen: Oder anders gesagt: Die Religionen können nicht mehr Sinnstifter einer pluralistischen Gesellschaft sein, aber dabei helfen, Unsinn zu mindern.
Rubinstein: Aber jede Religion versucht doch, ihre Position abzustecken. Es geht um Macht und Einfluss. Somit haben wir heute einen Kampf der Religionen und der Kulturen. Wobei das Judentum insgesamt klein und unbedeutend ist. Es spielt keine Rolle.
Alboga: Ich glaube, auch für die Muslime ist die Zustimmung zur Säkularisierung nur eine Frage der Zeit und eine Frage religiöser Forschung und Aufklärung. Wie sah denn das religiöse Verständnis in Deutschland vor 50 Jahren aus? Und wie fundamental hat der Säkularismus dieses neu geprägt? Auch der Islam wird diesen Prozess durchstehen müssen. Je mehr Lehrstühle für islamische Theologie wir haben, desto schneller die Erkenntnis: Man kann nicht jederzeit und überall buchstäblich alles praktizieren.
Was meinen Sie damit?
Alboga: So könnten zum Beispiel praktizierende Muslime auch einmal erklären, dass es für sie kein Problem ist, wenn kein Kopftuch getragen wird. Das Kopftuch ist nämlich nicht das Problem, sondern die Art und Weise der Diskussion.
Dieses Wochenende wird in Brüssel über die Präambel der Europäischen Verfassung entschieden, dann soll aus dem „humanistischen“ Grundsatz ein „christlicher“ werden. Wo bleibt da die staatliche Neutralität?
Rubinstein: Da ist keine staatliche Neutralität zu erkennen. Aber wir sind in einem christlichen Land, einem christlichen Europa. Das ist der Versuch des Christentums, Positionen zu behalten. Mit dieser Präambel erhält das Christliche eine Vorrangstellung.
Lefringhausen: Es ist wichtig, zu begreifen, dass Europa keine Glaubensgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft ist. Und die Formel in der Präambel sollte deshalb nicht das christliche, sondern auch weiterhin das humanistische betonen. Alles andere hat ausschließenden Charakter.
Kann die Türkei denn EU-Mitglied werden, wenn in der Präambel „christlich“ eingefügt wird?
Alboga: Das wäre kein Problem, denn die Türkei praktiziert ja den Laizismus.
Rubinstein: Nein. Das sehe ich anders. Diese Diskussion ist eine versteckte Abstimmung, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht.
Lefringhausen: Ich stimme dieser Einschätzung zu: Die Präambel-Debatte ist auch indirekt eine Türkei-Debatte.
Ist Religion nun Integrationsbrücke oder -blockade?
Lefringhausen: Es ist schwer zu beurteilen. Sie könnte eine Brücke sein, weil Religion ganz erhebliche Durchhalteenergien liefert. Sie kann auch Blockade sein, wenn sie als Selbstisolierung von Rechthabern betrieben wird. Aber die Schulen haben neben dem Bildungsauftrag auch ein Integrationsmandat; deshalb darf der Religionsunterricht nicht einfach eine Unterscheidungslehre sein.
Alboga: Es kommt letztlich auf die religiösen Vertreter an. Wenn wir ein gemeinsames Integrationskonzept entwickeln, wird auch Religion kein Hindernis sein.
Rubinstein: Religionen schaffen Brücken, weil sie Gesprächsthemen sind – wie hier.