Die Durchlöcherung der Welt

Der Bremer Literaturpreis geht dieses Jahr an die Berliner Schriftsteller Martin Kluger und Mathias Gatza. In ihren Romanen spielen beide mit der Sehnsucht nach Identität – und enttäuschen sie zugleich. Statt fertige Antworten zu bekommen, wird man Zeuge einer mäandernden Suchbewegung

Beide interessieren sich für die urliterarische Aufgabe, das Identitätsgewurschtel bis ins Delirium durchzudenken

VON JENS FISCHER

Ich bin ich. Wer, bitte? Souverän meiner selbst! Ich = Ich? So aufgeschrieben funktioniert das Identitätsprinzip leider nicht, denn im Laufe eines Lebens, Jahres, Tages behält „Ich“ ja nicht dieselbe Bedeutung, ist eher Kontinuität, Entwicklung, setzt sich nach und nach zusammen – und lässt sich prima wieder auseinander pulen.

Misstrauen ist angesagt, gerade jetzt, da die Wirtschafts- zur Lebenskrise wird und wieder Hilfe suchende Blicke zwischen Buchdeckel geworfen werden, Sinn rettende, frisch identitätsstiftende Gedanken ersehnend. Da kommt die Literarische Woche in Bremen gerade recht, die dieses Jahr das Thema „Mauerfälle. Deutschland 20 Jahre danach“ hat.

Passend dazu wurden gestern mit dem Bremer Literatur- sowie Förderpreis der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung zwei in Berlin geborene und heute noch dort lebende Schriftsteller ausgezeichnet, Mauerkinder, die 20.000 beziehungsweise 6.000 Euro Preisgeld mitnehmen durften – obwohl sie sich nicht so für die Berliner Mauer interessieren. Sondern eher für die urliterarische Aufgabe, das Identitätsgewurschtel bis ins Delirium durchzudenken, ohne mit Antworten zu belästigen. Martin Klugers „Der Vogel, der spazieren ging“ und Mathias Gatzas „Der Schatten der Tiere“ sind dichte, aufregende, lebensweise, gedankentreibende Romane – und für Literaturfans auch anspielungsreiche Jonglagen mit Schreibhaltungen.

Kluger und Gatza könnten nicht unterschiedlicher sein, so, wie sie sich auf der Preisträgerlesung auf roten Ledersesseln präsentieren – in sich ruhend der eine, krabbelig aus sich heraus wollend der andere. Kluger, Jahrgang 1948, ist erfahrener Romancier, Drehbuchschreiber, Übersetzer. Er ironisiert den möchtegernschlauen Ich-Erzähler seines ausgezeichneten Werks mit sanft sonorem Ton, liest mit wacher Eleganz, so dass der feine Sprachrhythmus angenehm untergründig pulst. Gatza, Jahrgang 1963, wirkt so gar nicht abgeklärt, war einst Lektor und Verleger, ist als Literat ein „Spätberufener“. Er zupft, wuschelt, scheuert, kratzt, streicht, fummelt an seinem Kopf herum, dass man als zuhörender Zuschauer selbst ganz nervös wird. Mit harschem, unwilligem Tonfall intoniert Gatza, zerstört den Klang, teilweise auch Sinn der Sätze, rattert los wie ein Radiomoderator, der einen kompletten 2:30-Beitrag in zwei Minuten aufsagen muss.

Und doch gab es in der Geschichte des Bremer Literaturpreises wohl selten ein Gewinnerduo, das sich so „unheimlich nahe“ ist, wie Kluger staunte. Sein gebrochener Romanheld Samuel ist Sohn eines weltberühmten US-Krimischriftstellers, der als Jude einst aus Nazi-Deutschland fliehen musste. Traumatisiert durch die Geschichte, leidend an Selbstbetrügereien sucht Samuel die Wahrheit der Familiengeschichte – als Bezugssystem für sein Ich. Und erfährt von Onkel Meyer: „Identität bedeutet Schuld“ – Überleben nach dem Holocaust.

Dann geht der „Kuddelmuddel“ los: Erst wird Samuel von seiner Tochter heimgesucht, dann kommt die Verwandtschaftsmischpoke vorbei – und Kluger inszeniert mit feiner Komik und satirischer Energie sein Misstrauen gegenüber dem Konzept Familie. „Die Grundeinsamkeit des Menschen wird dort nicht geheilt“, erläutert er, aber Familie sei eine prima Maschine zur Produktion von wahren und erfundenen Geschichten. „Ob Oma den Titanic-Untergang wirklich überlebt hat, ist egal, entscheidend ist, ob sie es gut erzählt.“

Und Kluger erzählt gut, betreibt dabei die fantastische Durchlöcherung der Realität und das Oszillieren zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, ahmt jene zuckenden, kreiselnden, sich bizarr in Szene setzenden Identitätsbehauptungen des Lebens nach.

Auch Gatza zeichnet sich durch mäanderndes Erzähltalent aus, vermischt auf wunderbare Weise Tragik und Witz. Bei ihm verliert ein ehemaliger Trinker das Mit-sich-selbst-identisch-sein-Gefühl, auch er hat eine Tochter, die als Einzige im Lauf der Handlung unverletzt bleibt. Da im „Schatten der Tiere“ eine Großfamilie fehlt, arbeitet sich der Ich-Erzähler an einer Rätselfigur ab, die zu Beginn der Handlung bereits tot ist: ein Freund, Rivale, Ego und Alter Ego. Es folgt die Ich-Suche in den Hinterlassenschaften des Toten – zu denen auch dessen Gattin gehört.

Der Roman beginnt im Zoologischen Garten Berlin, wo bereits Klugers Werk „Abwesende Tiere“ spielte. Auch die mit Bremer Lobpreisungen gesegneten Romane der beiden Autoren sind sich „unheimlich nahe“, eilen von einem Gedankengebäude in das nächste, immer auf der Suche nach Flucht- oder Anhaltspunkten für Vorstellungen vom Erzähler-Ich. Es gibt reichlich zu greifen, aber man bekommt eigentlich nichts zu fassen. Oder wie es Moderator Lothar Müller von (Süddeutsche Zeitung) formuliert hat: Viele Täuschungen, aber wenig Enttäuschungen böten diese Bücher. Sie schauen der Identitätsforschung bei der Arbeit, bei der Literaturwerdung zu.

Martin Kluger: „Der Vogel, der spazieren ging“, Dumont Buchverlag, 318 Seiten. Mathias Gatza: „Der Schatten der Tiere“, Rowohlt Verlag, 384 Seiten. Literarische Woche Bremen: Der französische Schriftsteller Olivier Guez liest am Mittwoch, 28. 1., 19.30 Uhr im Institut Francais aus seinem Romanprojekt „La Chute du Mur“, und junge Bremer AutorInnen präsentieren Texte über ihre Mauererfahrungen (Donnerstag 29. 1., 20 Uhr, Lagerhaus). Mauerblicke von Ost nach West zeigt die Stadtbibliothek mit Irina Liebmanns Aufnahmen in Orwo-Color aus den frühen 1980er Jahren. Abschluss: „Mauerfälle – der große Themenabend“ mit den Schriftstellern Jan Böttcher, Ulrike Draesner, Michael Jürgs und Angela Elis, es moderiert Silke Behl von Radio Bremen (Samstag, 31. 1., 20 Uhr, Concordia).