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Archiv-Artikel

Galerien der Großstadt

Man kann sie in jeder kleinen Nische entdecken. Ihre Produktion erfolgt serienmäßig in anarchischen Druckereien oder zu Hause auf dem Balkon. Die Macher bleiben lieber unerkannt. Ein Besuch in der Parallelwelt der anonymen Aufkleber

von SEBASTIAN HEINZEL

Die Ameise. An jeder Straßenecke begegnet sie mir. Übergroß, perforiert, aufgeklebt. Hundertfach vergilbt sie reglos auf den Rückseiten der Verkehrsschilder. Ein Heer anonymer Aufkleber, die Berlin wie eine bunte Plage überziehen. Eine Information ist der Ameise nicht zu entnehmen. Keine Werbebotschaft, keine Internetadresse.

Kleinformatige Abziehscheine wie die Ameise bevölkern die urbanen Nischen der Szeneviertel. Sie pappen auf Fußgängerampeln, Laternenmasten, Hauseingängen, Geländern, Werbeplakaten und Stromkästen. Sie verwittern in Stickercollagen mit den Konsumbotschaften und Veranstaltungshinweisen. Die serienmäßig auftretenden Kleinkleber sind wie eine unkommerzielle Galerie in der Mitte der Großstadt.

In der Fleischerei am Rosenthaler Platz entdecke ich den Ameisenbau. Früher wurden hier Tiere zerhackt. Seit zwei Jahren ist die Schlachtstätte von einer Künstlergemeinschaft zu einer alternativen Siebdruckwerkstatt umgerüstet worden. „Schweinefettig“ sei es beim Einzug gewesen, erinnert sich Frank Dudda, der Schöpfer des Insekts. Heute sind die Wände restlos beklebt – mit Stickern und Postern aus eigener Produktion.

Als der 44-Jährige seine Mappe rauskramt, fällt mir auf: Die meisten Motive kenne ich bereits von der Straße.

Warum beklebt ein erwachsener Mann Häuserwände? Dudda reagiert leicht genervt auf die Frage. „Das ist ’ne Art von Widerstand. Zu zeigen, dass et och anders jeht, weeste?“ Der gelernte Tischler lebt von Arbeitslosenhilfe und ist ehrenamtlich in der Fleischerei. 1996 hat er als einer der Ersten mit dem Kleben begonnen. In den letzten Jahren, so erklärt er, erlebe er eine wachsende Szene, die sich immer kreativer artikuliert: „Es jibt ’ne unheimliche Not, sich auszudrücken, zu sagen: Wir sind och noch da.“

Heute ist offene Werkstatt in dem gemeinnützigen Projekt Fleischerei. Das bedeutet: drucken für jedermann zum Unkostenpreis. Unter Anleitung des Schweizer Gründers Beat drängen sich junge Leute an den Arbeitsplätzen. Der anarchische Geruch von Druckerschwärze liegt in der Luft. Christian, 22, presst dichte Farbe durch ein schweres Sieb. Der erste Versuch misslingt. Das „Fuck The Future“ auf seinen Stickern ist nun bläulich verschmiert.

Die ungeschminkte Atmosphäre der ehemaligen Metzgerbetriebe scheint einige Anziehungskraft auf die grob geschnittene Kunst von der Straße auszuüben. In einer anderen früheren Fleischerei in Friedrichshain wird gerade die Vernissage der Ausstellung „Die Stadt als Leinwand“ gefeiert. Ein verrosteter Fleischerhaken hängt drohend von der Decke.

„Tower“ hat sich mit einer Farbrolle, die seinen Namen schreibt, blutrot auf den Kacheln verewigt. Es riecht nach Aerosol. Ein kleiner Nebenraum fungiert als überdimensionales Gästebuch. Einige Writer tragen sich gerade mit Sprühdosen und dicken Filzmalern ein. Hier lerne ich Tower kennen, dessen Künstlername seiner Körpergröße gerecht wird. Der Zweimetermann beklebt freizeitmäßig Friedrichshain. Sein Geld verdient sich der gelernte Gärtner als Plakatierer. Tower arbeitet nachts und nutzt den kostenlosen Kleister auch für eigene Plakate. Das Papier dafür stammt aus geklauten Restbeständen des Tagesspiegels. Seine Arbeiten produziert Tower mit Schablone und Dose auf dem Balkon.

Wie viele begann der 23-Jährige mit Paketscheinen: „Ich hab mitgekriegt, dass es bei der Post umsonst Aufkleber gibt, die verdammt gut kleben.“ Im nächsten Postamt holte sich Tower einen Batzen, zog mit Edding sein tag auf die Versandscheine und klebte los. Bedenken „wegen der Fingerabdrücke“ hat er über Bord geworfen, seit er beim Kleben von „Ziften“ (Zivilpolizisten) angehalten wurde und die ihn sofort wieder laufen ließen. Immerhin waren es anfangs an die tausenddreihundert Postaufkleber, die er monatlich in der Stadt verteilte.

Warum? „Die Frage stell ich mir auch oft.“ Tower überlegt kurz und zuckt mit den Schultern: „Da is auch so ’n kleiner Adrenalinkick bei, und wenn man’s einmal macht, dann muss man’s immer wieder machen.“

Der gleichaltrige Bild weiß ziemlich genau, warum er kleben geht. „Ich muss auf die Stadt reagieren, mich artikulieren. Was wäre ich denn sonst – außer Konsument?“

Ich lerne Bild bei der Ausstellungseröffnung kennen. Auf den ersten Blick haben Tower und er viel gemeinsam. Genau wie Tower kam Bild vom Graffito zur Urban Art. Auch er jobbt als Plakatierer, um seine Kunst zu finanzieren. Und seit einem Jahr wohnt der gebürtige Bonner in Friedrichshain – in der gleichen Straße wie Tower.

Aber die beiden sind sich nicht grün. Ihr Konflikt begann damit, dass Bild unbewusst mehrere Aufkleber von Tower mit seinen Plakaten überklebte. „Tower ist ja überall“, rechtfertigt er sich. Jener allerdings empfindet die Sache als Provokation. „Ich achte sehr darauf, dass ich nichts von anderen übergehe“, erklärt Tower mit Hinweis auf die eigene Graffiti-Sozialisation: „Man crosst einfach nicht, so hab ich das gelernt“, sagt er bestimmt, und außerdem: „Der kommt ja nicht mal aus Berlin.“

Wie die meisten szeneinternen Auseinandersetzungen wird ihr Streit auf der Straße ausgetragen; sie überkleben und übermalen die Werke des anderen oder versehen sie mit vieldeutigen Kommentaren. Als mir Tower eine dieser unfreiwilligen Koproduktionen in Friedrichshain zeigt, läuft uns zufällig Bild über den Weg. „Kuck mal, wer da ist!“, ruft Tower. Der hochgewachsene Berliner und der schmächtige Bonner bleiben kurz stehen, wechseln ein paar Worte und mustern sich skeptisch. Eine peinliche Situation. Keiner von beiden erwähnt ihren Konflikt. Dann eilt Bild schnell weiter. „Hey, dein Shirt ist kaputt!“, ruft ihm Tower grinsend hinterher.

Ich verabrede mich mit Bild für eine Stadtführung in Mitte. Der Straßenkünstler wirkt unscheinbar in Jeans, T-Shirt und Baseballkappe. Ruhig und aufmerksam bewegt sich sein Blick über Schilder und Wände. Weiße Kleckse auf seinem Rucksack, eine kleine Taschenlampe in der Außentasche und die zerrissenen, farbverschmierten Turnschuhe zeugen von nächtlichen Streifzügen.

Doch Bild ist auch tagaktiv: „Ich finde es selbstverständlich, dass ich versuche, die Stadt zu bemalen“, sagt er. Eine seiner schwarzweißen Stickerserien zeigt sein Markenzeichen: eine gesichtlose Gestalt, die ihre Hände abwehrend von sich streckt. „be an image“ lautet die Botschaft dazu. „Menschen haben viele verschiedene Rollen und Identitäten. Jeder ist ein Bild“, erläutert Bild sein Pseudonym. „Man macht sich ein Bild von Leuten in der Stadt, bleibt aber anonym.“

Als Mitglied der Street-Art-Bewegung „Anti Information Conspiracy“ stellt Bild gerade bei „urban-art-info“ aus. „Die Galerie hat sich zu einer Pilgerstätte entwickelt“, stellt er vor dem heruntergekommenen Ladengeschäft fest. Der zugeklebte Eingangsbereich liest sich wie ein Who’s who nationaler Stickerhelden: Das „Eichhörnchen“, die „Spritze“, das Buchstaben kotzende „Problem Child“. Alle sagen eins: Ich war hier. In der Galerie erklärt mir Valerij, 23, dass nicht alle Straßenkünstler in die Galerien streben: „Weil sie eine andere Denkweise haben. Sie wollen den urbanen Raum gestalten. Anders als mit Werbeplakaten.“

Doch die Werbemacher verstehen die Kriegserklärung nicht. Wie so oft hat die Branche das Potenzial der subversiven Straßenmedien frühzeitig für die kommerzielle Nutzung entdeckt. Hunderttausende wilder Plakate und Sticker werden per Guerillamarketing täglich verbreitet. Die Art Directors von Nike warteten bereits im vergangenen Sommer mit einer WM-Kampagne in rauer Schablonenästhetik auf.

Das Prinzip ist einfach: Man erntet die Ideen von der Straße ab. So wie Torsten Weisheit. Der 39-Jährige ist Senior Designer bei einer renommierten Hamburger Agentur. In seiner Arbeit lässt er sich von der Stickerkultur der Hansestadt inspirieren.

Vor neuen Projekten nimmt er Bestand auf: „Was gibt es schon, was passiert, was ist noch nicht etabliert?“ Im Büro entwirft Weisheit Logos und Grafik für etablierte Großkunden wie Jacobs oder Boss; in seiner Freizeit reißt der gelernte Bankkaufmann vom Verkehr und Luftverschmutzung verdreckte Sticker von den Wänden. Zwölf Skizzenbücher hat er bereits gefüllt. Die Kollektion erfordert vollen Einsatz: Manchmal steigt er auf Fahrräder oder klettert an Laternenmasten hoch, um an besonders begehrenswerte Klebebildchen zu gelangen. „Das ist ein Urtrieb. Grafiker sind Sammler“, erklärt er verschmitzt. Weisheit wirkt bei seinen Aktionen wie ein Zivilfahnder auf Spurensicherung; mit Blick auf die irritierten Passanten sagt er leicht verschämt: „Mittlerweile ist es mir egal.“ Mit dem Abkratzen der Aufkleber hat er sich sogar schon seine Kreditkarte ruiniert.

Für ihn ist auf den Stickern eine neue Generation grafischer Sprache erkennbar: „Man merkt, dass da was Anarchistisches drinsteckt.“ Jüngst überlegte der Grafikdesigner, seine Sammlung in einem Bildband zu veröffentlichen.

Weisheit ist eben Geschäftsmann.

Die Künstler der Kleber hingegen wollen sich nicht vermarkten lassen. Als Adidas an die Tür der Fleischerei klopfte und um eine Mappe bat, winkte Frank Dudda ab. „Da steig ich dann wieder aus.“ Er hat keine Lust, es den Leuten recht zu machen. Schließlich klebt er die Ameise auch, um gegen die Invasion der Werbung zu protestieren. Für die Natur. „Die Ameise verarbeitet sowieso alles. Zu Kompost und so.“

SEBASTIAN HEINZEL, 24, ist freier Autor und Filmemacher in Berlin. Sein erstes und einziges Graffito ging dermaßen in die Hose, dass er seither lieber über Straßenkunst berichtet