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Archiv-Artikel

Der Traum von der großen Verweigerung

Aus Anlass des Ehrenbegräbnisses von Herbert Marcuse erinnerte ein FU-Kolloquium unter dem Titel „Die Praxis folgt der Wahrheit“ an die Julitage 1967, als der Philosoph erstmals an die FU kam. Leider wurde daraus vor allem ein Nostalgietrip, auf den sich auch die Bürgerrechtsikone Angela Davis begab

von JAN ENGELMANN

Das Ende der Utopie, vielleicht sieht es so aus. Im Audimax der Freien Universität jubelt eine Jobannonce der Competence Call Center GmbH vergnügt vom schwarzen Brett herunter: „Freust du dich über flexible Arbeitszeiten, die dir eine Verbesserung deines Einkommens während des Studiums ermöglichen?“ Gleich daneben wettert ein Infostand des Asta gegen die geplanten Langzeitstudiengebühren und prangert die „Entmündigung in der Lernfabrik“ an. Wissenschaftssenator Thomas Flierl wird dies wohl kaum zur Kenntnis genommen haben. Denn er unterhält sich gerade angeregt mit sehr viel älteren Semestern und ist, Gott sei Dank, einmal nicht das Thema.

Genau an diesem Ort, vor 36 Jahren, fand der Traum von der „großen Verweigerung“ noch viele Anhänger. Das Ende der entfremdeten Arbeit erschien möglich, ebenso die produktive Versöhnung von Eros und Politik. Im Juli 1967 war Herbert Marcuse aus San Diego zu einem viertägigen Teach-in an die FU gekommen, um „uns eine Welt zu zeigen, in der Geld, Aufstieg, Disziplin nicht das Wichtigste waren“. Gunter Gebauer, Leiter des philosophischen Instituts, erinnert an das Anfixende und Euphorisierende, das jener Besuch damals entfaltete. Nun hat Gebauer die Ehre, bei Marcuses zweiter Heimholung der Gastgeber zu sein. Ein Gedenkkolloquium unter dem Titel „Die Praxis folgt der Wahrheit“ soll an historischer Stelle der Aktualität seines Denkens nachspüren.

Den Anlass dafür bot die Überführung jener Urne, die Sohn Peter Marcuse und Enkel Harold im Lagerhaus eines Bestattungsunternehmens in Connecticut fanden. Nach längerer Beratung entschied die Familie, die Asche des gebürtigen Berliners in seiner Heimatstadt beizusetzen. Vor Jahresfrist formulierte man eine dementsprechende Anfrage an die Senatsverwaltung. Diese fand schließlich ein geeignetes Plätzchen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, unweit von Hegel und Brecht. Und so ging dann diese Woche, zum Ende einer kuriosen Odyssee, der Transfer vom Flughafen Tegel in einem schwarzen Cadillac vonstatten, in dem schon der Leichnam Benno Ohnesorgs transportiert wurde. Ein Kreis schließt sich.

Peter Marcuse gab zu, dass ihm nicht ganz klar sei, wie eine gerechte Bilanzierung des Wirkens seines Vaters aussehen solle. Wie könne man das persönliche Charisma von der Attraktivität seines Denkens, wie die sentimentalen von den emotionalen Momenten der Erinnerung trennen? Im Hinblick auf den Anekdotenreichtum, den die Archivare der Studentenbewegung pflegen, sei sehr zu wünschen, dass die Veranstaltung nicht zu einem „Nostalgietrip“ werden möge.

So ganz wurde er nicht erhört. Denn sowohl die eigens zu Authentifizierungszwecken eingeflogene Bürgerrechtsikone Angela Davis, die Marcuse eine „enorme intellektuelle Präsenz“ bescheinigte, als auch die ehemaligen Berliner Asta-Vorsitzenden Helmut Häußermann (Ex-SHB) und Wolfgang Lefèvre (Ex-SDS) überboten einander im Chronisteneifer. Marcuse sei in jenen Julitagen 1967 als ein „Gesprächspartner mit Reputation“ aufgetreten, dessen leidenschaftliche Kapitalismuskritik „uns das Herz wärmte“. Wenngleich er dem rigiden Ableitungsmarxismus, der damals überwog, mit milder Nonchalance begegnete, wurde er zu einem wichtigen Katalysator für die vielen politischen Forderungen, die gerade im Begriff waren, sich von bloßen Hochschulinterna auf die Schaffung eines „neuen Menschen“ in den Befreiungskriegen der Dritten Welt auszuweiten. Marcuse selbst schätzte seine eigene Rolle wohl etwas realistischer ein. Wie sein Nachlassherausgeber Peter-Erwin Jansen erwähnte, schrieb er über den Berlinbesuch in einem Brief an Leo Löwenthal: „Sie haben mich wie einen Messias empfangen.“

Für Eberhard Lämmert, seinerzeit noch ein aufsteigender Stern am Germanistenhimmel, traf Marcuse „wie der zündende Funke auf ein Pulverfass“. Weil man die Krise einer auf die Spitze getriebenen Leistungsgesellschaft längst als „ganzheitlich“ empfand und den großen Umsturz ungeduldig herbeisehnte, seien so manche seiner prophetischen Denkfiguren „nur allzu gerne in kurzfristige Verheißungen umgemünzt“ worden. Marcuses ehrenwerter Versuch, verständlicher und zugänglicher als die elitären Frankfurter Kollegen zu sein, traf nicht selten auf die Bereitschaft zu einer kruden Eins-zu-eins-Entsprechung.

Axel Honneth sah bereits in der Selbstbeschreibung Marcuses als „unverbesserlicher, sentimentaler Romantiker“ eine wichtige Differenz zu Adorno, was den intellektuellen Habitus anbetrifft. Viel mehr als der eitle Stilist vom Grand Hotel Abgrund sei er „auf exoterische Wirkung bedacht gewesen“ und habe deshalb eine gewisse „habituelle Naivität“ kultiviert. Diese wollten sich die zahlreich erschienenen ehemaligen SDSler im Auditorium allerdings nicht nachsagen lassen und mischten das Podium kräftig auf. Defätismus, Rückwärtsgewandtheit und Männerbund lauteten die am häufigsten erhobenen Vorwürfe – im Grunde habe sich nichts verändert. Einigen konnte man sich höchstens darauf, dass das Weltsozialforum und das linke Projekt www.indymedia.org zumindest erahnen ließen, dass Marcuses Denken auch heute wieder eine gewisses „Gefahrenpotenzial für das System“ besitze. Nur von Utopie sprach, anders als 1967, keiner mehr.