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Archiv-Artikel

Leben ist ein langer trüber Fluss

„Ob Saddam an der Macht ist oder die Briten, ist für uns zweitrangig“,sagt Umm Khalid

aus Basra INGA ROGG

Es ist ein Gesicht wie aus einem Fellini-Film – verwittert und viel zu grell geschminkt. Früher war Juliett Hermez mal beim Fernsehen. Dann war sie Stewardess bei der staatlichen irakischen Fluglinie. Aber das ist alles lange her. Nachdem sie ihren Mann im Krieg gegen den Iran verloren hatte, musste sich die Christin aus Bagdad nach einem lukrativeren Job umschauen. Vor sieben Jahren hat es sie schließlich nach Basra verschlagen. Zuerst hat sie es mit einem Friseursalon versucht, der lief nicht gut. Es waren die Jahre des äußeren und inneren Embargos gegen die Stadt tief im Süden, und wer gibt in Notzeiten schon Geld für die Schönheit aus. Also hat sie ein Restaurant eröffnet. Klöße nach Mossuler Art kündigt das Schild über dem Eingang an. Nach der berühmten Speise aus gestoßenem Reis, Hackfleisch und Gewürzen riecht es in dem kleinen Restaurant freilich nicht, schon eher nach billigem Eau de Cologne. Juliett Hermez ist Zuhälterin. Aber darüber spricht man im Irak nicht offen.

Zwei Frauen arbeiten für Juliett – Umm Khalid und Umm Majid, die Mutter von Khalid und die Mutter von Majid, beide Schiitinnen, wie die meisten Bewohner von Basra. Hinter einem Vorhang, der als Sichtschutz dient, sitzen sie an einem wackligen Eisenschreibtisch direkt neben der Eingangstür. Beide sind von Kopf bis Fuß in die typischen schwarzen Gewänder und Kopftücher des Südens gehüllt, die nicht einmal die kleinste Haarsträhne freigeben. Ab und zu schaut ein Kunde herein, die meisten verziehen sich aber beim Anblick der Reporterin schnell wieder. Nur einer aus Bagdad hat es offenbar eilig. Was es koste, will er von der Jüngeren, Umm Khalid, wissen. 5.000 Saddam-Dinar verlangt sie, rund 3,5 Dollar. Gestern habe es doch nur 3.000 gekostet, beschwert sich der Mann. „Die Zeiten haben sich eben geändert“, sagt die 31-Jährige mit dem hübschen Gesicht.

Das sichtbarste Zeichen der neuen Zeit in Basra sind die riesigen Porträts schiitischer Geistlicher, die vom Regime ermordet wurden und deren Konterfeis jetzt an die Stelle der früheren Saddam-Bilder gerückt sind. Hin und wieder kann man eine Patrouille britischer Soldaten in leichter Uniform durch die Stadt fahren sehen. Panzer oder schwer bewaffnete Militärkonvois wie in Bagdad sind eher die Ausnahme.

Für Umm Majid hat die Befreiung von der Diktatur erst einmal keine Verbesserung gebracht. Im Gegenteil. Ihr Mann war Soldat. Seit der amerikanische Zivilverwalter L. Paul Bremer die Armee im Mai aufgelöst hat, erhält er keinen Sold mehr. Eine andere Arbeit finde er nicht, sagt sie. Mit 42 Jahren schaut Umm Majid bereits aus wie 50, darüber kann auch das dezente Rouge nicht hinwegtäuschen. Hier im Süden altern die Frauen schnell. Sie werden oft schon als Minderjährige verheiratet und bringen früh Kinder zur Welt. Von ihren fünf Kindern seien drei noch klein, und die müsse sie irgendwie durchbringen, sagt Umm Khalid. Deshalb hat sie vor einer Woche bei Juliett angefangen. Zwischen 1.500 und 3.000 Saddam-Dinar verdient sie am Tag. Das ist lächerlich wenig, aber mehr als der Lohn eines Tagelöhners.

Die Frauen könnten mehr verdienen, sagt Juliett. Aber wegen der ständigen Überfälle müsse sie schon um neun Uhr abends schließen, wenn das Geschäft erst richtig beginnt. „Früher hat die Polizei eingegriffen“, sagt die 50-Jährige mit einer Stimme wie ein Trommelfeuer. „Heute sind sie reine Dekoration.“ Vor wenigen Tagen sei gegenüber ein Mann erschossen worden, fährt sie atemlos fort. „Die Polizisten schauten einfach zu.“ Racheakte sind in Basra an der Tagesordnung, das kann auch für Polizisten schnell gefährlich werden. Dass die Sicherheitslage in Basra weiterhin prekär ist, gesteht auch der Sprecher der Coalition Provisional Authority (CPA), Iain Pickard, ein. Allerdings sei dafür letztlich Saddam verantwortlich, der im vergangenen Herbst tausende Kriminelle freigelassen habe.

Das sehen auch die drei Prostituierten so. Nur hilft es ihnen nicht. „Wir müssen unser Geld verdienen“, sagt die kräftige Umm Khalid. „Ob Saddam an der Macht ist oder die Briten, ist für uns zweitrangig.“ Dabei hätte sie allen Grund, einen heiligen Zorn auf Saddam zu haben. Ihr Mann ist seit dem Überfall auf Kuwait 1990 verschollen, und ihrem Bruder wurde ein Ohrläppchen amputiert – das Kainsmal vieler Deserteure. Auch die Prostituierten blieben von den Schergen des Regimes nicht verschont. Auf Befehl von Saddam Husseins Sohn Udai seien vor dem Krieg im April sieben ihrer Kolleginnen ermordet worden, erzählen die drei. Einer hätten die Mörder den Kopf abgeschlagen und ihn zur Schau auf einen Pfahl gesteckt.

Wenn das Grauen zu erdrückend und die Not zu groß sind, hört man vielleicht irgendwann auf, sich gegen das Unabänderliche aufzulehnen. Und das Elend dauert in Basra nunmehr schon fast ein Vierteljahrhundert. Es begann mit dem Krieg gegen Iran, als statt der Schiffe mit Waren aus aller Welt im Schatt al-Arab Minen landeten und statt der Touristen aus der Golfregion, die das Angebot an Alkohol und Sex nach Basra zog, ein Heer armseliger Soldaten die Stadt belagerte. Dann folgten das UN-Embargo, der Golfkrieg und die Massaker an den aufständischen Schiiten. Und als wäre das nicht schon Strafe genug, schnitt der Despot die Stadt von allen Investitionen in die Infrastruktur ab.

Das Leitungswasser war auch schon vor dem Krieg eine trübe Brühe, und Strom gab es nicht mehr als heute. Aber auf den Flugblättern, die Briten und Amerikaner während des Kriegs abwarfen, versprachen sie eine Zukunft so rosig, dass es den verarmten Städtern wie die Verheißung auf das Paradies erscheinen musste – Freiheit, Lebensmittel und Wasser im Überfluss. Nicht zuletzt deshalb stehen die Besatzer heute da wie der Wunderdoktor, der Zaubermittel gegen ein Krebsgeschwür versprach.

Die Ärztin Natik Dikran ist alles andere als eine Gegnerin der Briten. Als Christin erhofft sie sich sogar deren Schutz vor den islamischen Tugendwächtern, die bereits dafür gesorgt haben, dass das einzige Kino am Ort schließen musste. Aber alles gehe zu langsam, sagt sie. „Sie sitzen im Saddam-Schloss und kümmern sich um nichts.“ Das stimmt zwar nicht ganz, aber wie die Amerikaner selbst tut sich auch ihr Juniorpartner schwer. Noch immer sind es in Basra die Soldaten, die Feuerwehr spielen. Sie reparieren defekte Wasser- und Stromleitungen und stellen angezapfte Ölleitungen wieder her. Die Firma Bechtel, die 680 Millionen der von Washington für den Wiederaufbau bereitgestellten 1,1 Milliarden Dollar bekam, hat nach zwei Monaten gerade mal eine Lageanalyse zustande gebracht.

Bereits 20 Patientinnen hat Dr. Dikran an diesem Morgen behandelt, weitere warten vor der Tür ihres kleinen Behandlungszimmers. „Unser Problem sind nicht fehlende Medikamente, sondern die Armut“, sagt die Gynäkologin. Die meisten Frauen kämen wegen Infektionskrankheiten, die durch mangelnde Hygiene hervorgerufen würden. Viele litten unter schweren Mangelerscheinungen aufgrund der schlechten Ernährung und chronischer Diarrhoe durch den falschen Umgang mit Wasser. Zudem sei besonders unter den tausenden Kriegswitwen der psychische Stress enorm hoch, auf denen nicht nur die Ernährung der Familie, sondern auch der strenge Ehrenkodex lastet. „Wir können sie behandeln“, sagt die 35-jährige Ärztin. „Aber gegen die Unwissenheit helfen auch Medikamente nicht.“

Sie sind zwar selten, aber es gibt sie – die Zufriedenen, für die die Zukunft schon begonnen hat. Ghaida Kerim und ihr Bruder gehören dazu. „Endlich sind wir Saddam los“, sagt die Grundschullehrerin. Jahrelang wurde sie in der Schule von den Anhängern des Regimes wegen ihre Gesinnung bespitzelt und gegängelt. Ghaida Kerim versteht sich als liberale Schiitin – Kopftuch und Lippenstift, das ist für sie kein Widerspruch. Mindestens so wichtig wie die politische Freiheit ist die materielle Verbesserung, die ihr die Gehaltserhöhung durch die CPA brachte. Jetzt müsse sie endlich nicht mehr den ganzen Lohn für die Bus- und Taxifahrten zur Schule ausgeben, sagt die schmale 28-Jährige. Ihr Bruder hat nach sechs Jahren Arbeitslosigkeit einen Job bei den Briten gefunden. „Vielleicht können wir nun unser Haus renovieren“, hofft sie.

Die Familie wohnt in einem der noch im osmanischen Stil erbauten Häuser in der Altstadt von Basra. Der Kanal mit seinen schmalen Brücken, der das Viertel durchzieht, brachte Basra einst den Ruf ein, das Venedig des Ostens zu sein. Davon ist der Stadt nur mehr die Erinnerung geblieben.