: Die Schönheit des Unübersichtlichen
Große Reiche zerfallen und Mikronationen vereinen sich glücklich. Am Sonntag endete in Barcelona das Sonar Festival für elektronische Musik. Die Einberufung der Generalstände des Dancefloor-Planeten ermöglichte schöne Entdeckungen von globaler Zeichenzirkulation und lokaler Aneignung
VON TOBIAS RAPP
Man stolperte fast über den roten Teppich, den die Organisatoren des Sonar Festivals in Barcelona vor einem kleinen Pavillon ausgerollt hatten. „Universalausstellung der Mikronationen“ nannte sich der Raum, in dem lauter virtuelle Nationen ihre Botschaften aufgebaut hatten. Von Sealand, einer ehemaligen Ölplattform in der Nordsee, die sich schon 1967 unabhängig erklärt hatte über das Königreich Elgarland & Vargaland, das die Hoheit über das Gelände zwischen den Grenzen aller Nationalstaaten beansprucht, bis zu dem Evrugo Mental State, der sich im Gehirn seiner Bürger befindet, konnte man mit den Vertretern aller möglichen Simulationsstaaten das Für und Wider einer Einbürgerung diskutieren. Ein Computerprogramm empfahl nach Beantwortung einiger Fragen die zu den individuellen Vorlieben passende Mikronation.
Einige Schritte weiter ging es auf dem Gelände des Sonar Festivals schon beträchtlich weniger übersichtlich zu. Man kann sich Sonar vorstellen wie das Wochenende der Love Parade, bloß ohne Parade. Wer Rang und Namen in der Welt der elektronischen Musik hat, ist vor Ort, entweder von Sonar eingeladen oder mit einer eigenen Party in einem der zahllosen Clubs der Stadt. Doch wenn man das Gelände mit einem Gespür für den Tribalismus der versammelten Vertreter der zahllosen Mikronationen der Dancefloor-Planeten durchschritt, war vor allem eines augenfällig: die Schönheit des großen Nebeneinander. Unendlich ausdifferenziert präsentierte sich die Welt der elektronischen Musik. Viele Mikronationen, glücklich vereint ohne Makrotrend.
Die Durcharbeitung des Formen- und Klangreichtums der Achtziger, die die vergangenen Jahre dominierte, ist an ihr verdientes Ende gelangt, und nur die Frisuren vieler Festivalbesucher kündeten wie ein fernes Echo vergangener Tage noch von Electroclash. Ryuichie Sakamoto und sein Yellow Magic Orchestra wiesen bei ihrem wunderbaren Auftritt eher in die Richtung zeitloser Eleganz. Auch die Regentschaft von Electronica scheint sich dem Ende zuzuneigen: Zwar wurde noch das eine oder andere Laptop zum Knispeln und Knorpeln gebracht, doch das Bedürfnis nach interessantizistischer Musik scheint dieser Tage eher von Künstlern abgedeckt zu werden, die aus dem HipHop kommen oder von dort ihre Inspiration beziehen. Selbst einen nationenübergreifenden Konsens stiftenden Headliner, wie in den vergangenen Jahren Björk oder die Pet Shop Boys, suchte man vergeblich.
Ein aufstrebendes Guerillatrüppchen wie das Berliner Shitkatapult-Label hat in dieser neuen Unübersichtlichkeit prima Platz neben einem ehemaligen Kaiser wie Jeff Mills, der zwar für die samstägliche Techno-Abfahrt in der großen Halle gebucht war, doch dessen Reich, über das er noch vor wenigen Jahren uneingeschränkt herrschte, längst zerfallen ist. Zwar bewegt sich Mills unbeirrt weiter auf seiner Suche nach des Technos reiner Seele, doch kaum jemand folgt ihm mehr. Die konzeptuelle Strenge seines Minimal-Techno-Entwurfs ist nur noch ganz bedingt kompatibel mit der stilistischen Offenheit, die gegenwärtig die elektronische Musik regiert.
Ohne Hype hieße, sich auf die zumeist landsmannschaftlichen organisierten Kommunikationslinien zu verlassen. „Ich habe gerade gehört, The Cock aus London macht eine Party, John Peel soll da auflegen, wo, ist aber noch nicht klar“, hieß es dann von jemandem mit Kontakten zu dem Londoner Club. Oder: „Der Ricardo ist voll auf Krawall gebürstet und besteht darauf, noch eine After Hour morgen früh am Strand zu spielen“ von jemandem mit einem direkten Draht zur Entourage des Berliner Star-DJs Ricardo Villalobos, der zusammen mit Richie Hawtin für das offizielle Nachtprogramm gebucht war.
Tatsächlich legte die Bookingpolitik des Festivals nahe, die Hoffnung bei der einen großen Sause dabei zu sein auf die zahllosen Partys rund um das Sonar zu projizieren. Denn für die Tages- und Frühabendveranstaltungen, die auf einem innerstädtischen Gelände stattfinden, waren fast ausschließlich Künstler gebucht, die in der einen oder anderen Art dem Experiment frönten, zu deren Musik man sich bestenfalls unter dunklen Schwaden von schwerem marokkanischem Plattenhasch entspannen konnte. Ein DJ-Set wie das des legendären New Yorker Disco- und House-Produzenten Francois Kevorkian, der am Freitagnachmittag mit einer eklektischen Mischung aus perkussionistischem Techno, Voodoo-Beschwörung durch einen mitgebrachten Candomblé-Priester und pianogetriebenem House hunderte von Menschen dazu brachte, die Hände in die Luft zu reißen, war die Ausnahme.
Die eigentlichen Tanzveranstaltungen fanden nachts in einem gigantischen Hallenkomplex in der Nähe des Flughafens statt. Die Basslautsprecher dort hatten eine Macht, als würden sie unter der Woche in einem Erdbebensimulationszentrum ihren Dienst tun. Auch kam man sich in einer Halle, deren Grundfläche etwa der von zwei Fußballfeldern entspricht und in der sich dreißigtausend Menschen zur Musik bewegen, sehr rasch sehr verloren vor.
Trotzdem waren hier zwei der interessantesten musikalischen Entdeckungen zu machen. Wenn man im Bild subkultureller Szenen als Mikrostaaten bleiben möchte, so entsprechen Baile Funk oder Grime einer Vorstellung künstlerisch autonom agierenden Gruppen ohnehin am ehesten. Ersteres ist der Sound der innerstädtischen Gettos von Rio de Janeiro, und mit DJ Marlboro spielt einer der Hauptprotagonisten dieser Musik, die in nichts jenen Vorstellungen verwandt ist, die man sich gemeinhin von brasilianischer Musik macht.
Entstanden in den frühen Neunzigern, als ein paar Kids in den Favelas entdeckten, dass die Bassdrum des Roland 808 Synthesizers sich anhört wie die rhythmusbestimmende Sambapauke, erinnert Baile Funk eher an Miami Bass denn an Bossa Nova oder Samba.
Der stockbrutale 808-Grundkick verleiht der Musik eine Anmutung von Früh-Achtziger-Electro. Dazu wird alles gesampelt, was bei Drei nicht auf den Bäumen ist: Frauenschreie, HipHop-Hymnen wie „Who let the dogs out?“ und testosterongesteuerte Stadionkracher wie „The Eye Of The Tiger“, das Thema der Rocky-Filme. Darüber wird auf Brasilianisch über Sex, Drogen und Gewalt gerappt.
Es ist eine Musik, die in ihrer grandiosen Stumpfheit, in ihrer Weigerung, irgendetwas anderes sein zu wollen als offensichtlich und in ihrem Bestehen darauf, jeden Effekt sofort und möglichst wirkungsvoll zu verbraten, das vielleicht beste Beispiel dafür, was für großartige Kunst das konsequente Missachten des Urheberrechts hervorbringen kann.
Das ist eine Musik der Gettos, die sich unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit entwickelt hat. Kommenden Monat erscheint in Europa die überhaupt erste Baile-Funk-Compilation. Zusammen mit Grime, dem aktuellen Sound der Londoner Unterschicht, der am besten mit der Umschreibung Gangsta-Rave umrissen ist, und in Gestalt der So Solid Crew ebenfalls in Barcelona vertreten, waren das beste Beispiele für das, was die Kulturwissenschaft Glokalisierung nennt: das Zusammenspiel von globaler Zeichenzirkulation und lokaler Aneignung.
Sowohl Grime als auch Baile Funk sind Spin-offs der HipHop-Kultur und somit Kinder jener Bildwelten, die das US-amerikanische Original vorgibt. Was sie jedoch besonders auszeichnet, ist ihre Autarkie – sie funktionieren weitgehend abgekoppelt vom globalen Musikmarkt. Ihre Medien sind vor Ort: allwochenendliche Partys und Sendungen von Piratensendern. In den Gegenden, für die sie Deutungshoheit behaupten, sind sie der konkurrenzlos regierende Sound. In ihren Stücken werden die ewig gleichen Fragen immer wieder neu verhandelt – welche Crew hat gerade das Sagen, wer kontrolliert welches Territorium, wessen Selbstbeschreibung kann man momentan als die eigene akzeptieren. Außerhalb dieses Bereichs, und das ist oft noch innerhalb der Stadtgrenzen, versteht kaum noch jemand, worum es in diesen Stücken überhaupt geht.
Zumindest Baile Funk hat sich außerdem weitgehend vom klassischen Tonträger emanzipiert. Die Stücke werden schnell produziert, auf CDs gebrannt, auf Partys gespielt und an der nächsten Straßenecke verkauft. Nach einer Woche sind sie oft schon wieder vergessen, weil eine neue Crew die Nase vorn hat. Ganz eigene Regierungsbezirke waren das also, deren Vertreter da nach Barcelona geladen worden waren.
So unübersichtlich und friedlich einem diese Einberufung der Generalstände des Dancefloor-Planeten vorkamen – so sehr waren und sind diese Tribes natürlich von den Machtlinien der realen Welt durchzogen. Als sich die Veranstalter außerstande sahen, die Bühne gegen einen Regenguss zu sichern, war es Robert Lippok von To Roccoco Rot, der darauf hinwies, dass abgesehen von den Superstars keiner der Künstler eine Gage oder auch nur Anreise und Unterkunft bezahlt bekommt. Die Veranstalter drehten ihm das Mikrofon ab. Man konnte aber auch einfach einen Schritt vor das Festivalgelände setzen. Raval, das Viertel, in dem sich das Festivalgelände befindet, ein Stadtteil, der von vielen Armen und Illegalen bewohnt wird, befindet sich seit Jahren in einem umkämpften Prozess der Gentrifizierung, als dessen Agenten die starke anarchistische Gewerkschaft CNT in diesem Jahr zum ersten Mal auch das Sonar ausgemacht hatte. In den Nebenstraßen rund um das Festivalgelände klapperten zahllose Anti-Sonar-Transparente zu dem Rhythmus, den die Bassfrequenzen ihnen vorgaben.