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Archiv-Artikel

Der rote Münchhausen

Antonio Negri ist der vielleicht paradoxeste Linksradikale unserer Tage. Er liebt es, mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse zu denken. Nun erzählt er in „Rückkehr“ sein bewegtes Leben

Die vielen, die „ihr Ding“ machen – sie lassen ihn auf Emanzipation hoffen

von ROBERT MISIK

Eines versteht Antonio Negri auf alle Fälle: zu verstören. „In Momenten der Angst fange ich an, an die Jungfrau Maria zu denken. Eine Art Aberglaube, den ich habe, seit ich klein war.“ Wer hätte das gedacht: Der seltsamste Linksradikale der letzten Jahrzehnte sendet in schwachen Augenblicken Stoßgebete gen Himmel. Zu lesen ist das in einer sonderbaren Art von Autobiografie, dem feinfühligen Interviewband „Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens“, in dem Negri der französischen Journalistin Anne Dufourmantelle kluge Fragen über sein Leben und Denken beantwortet.

Negris „Rückkehr“ in die Gegenwart ist das vielleicht sensationellste Comeback seit Lazarus. Nach Gefängnis, Exil, abermaligem Gefängnis gelang ihm mit dem Theoriewälzer „Empire“ (gemeinsam verfasst mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt) ein Weltbestseller. Das Werk war ein Ereignis, das Einschlug in Proseminaren und Rebellenzirkeln. Von der New York Times wurde der jargonschwere Gedankenmix als „the next Big Idea“ gefeiert, vom slowenischen Entertainer-Philosophen Slavoj Žižek gar als „neues kommunistisches Manifest“.

Dabei hat der fast siebzigjährige Antonio Negri eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Zuletzt hatte er mehr als Zeitzeuge gegolten denn als Zukunftsfigur. In den Sechziger- und Siebzigerjahren war Negri führender Theoretiker der italienischen radikalen Linken, Denker der Militanz, mit Berührungspunkten zu den terroristischen „Roten Brigaden“. Wie eng die waren, ist immer noch im Dunkeln, auch wenn er sicher nicht „der Alte“, der Kopf der Terrorzirkel war, zu dem ihn die italienischen Strafverfolger stilisierten. Basierend auf Aussagen wahnwitziger Kronzeugen wurde Negri 1979 – immerhin renommierter Politologieprofessor in Padua – verhaftet, weil er für den Mord an Aldo Moro verantwortlich gewesen sein soll. Später ins Parlament gewählt und als politisch immun entlassen, setzte Negri sich nach Paris ab, wo er bis 1997 im Exil lebte. Nach seiner überraschenden, freiwilligen Rückkehr nach Rom wurde er abermals ins Gefängnis gesteckt, heute lebt er offiziell unter „Hausarrest“ in der italienischen Hauptstadt.

Negri ist eine erstaunliche Type – und doch verschwindet er als Person seit beinahe dreißig Jahren schon hinter den hermetischen Begriffen von „Arbeiterautonomie“, „Planstaat“, oder später von „Mulitude“ oder „Exodus“. Er galt dem italienischen Staat als der Staatsfeind Nummer eins; und den meisten Linken als Exzentriker, irgendwie nicht ganz geheuer. Denn er war ein schwer auf einen Begriff zu bringender Revolutionär – sowohl renommierter Akademiker als auch Theoretiker eines radikalen Kampfes gegen die Mechanismen der Disziplinierungen der „Neuzusammensetzung des Kapitals“ und beißender Kritiker des Reformismus der Kommunistischen Partei Italiens.

In „Rückkehr“ lugt nun erstmals der Ironiker hinter dem Jargonjongleur hervor. Am Anfang hatte er eine „gewisse Sympathie“ für die Roten Brigaden, er habe „ihre Gründungsphase von innen miterlebt“, erzählt er nun, sich aber abgewandt, als sie anfingen „Verrücktheiten zu machen“. Als Anhänger der kämpfenden – und sich im Kampf verwirklichenden – „Arbeiterautonomie“ war Negri ohnehin nicht wirklich für das Desperadotum des Typus „Stadtguerilla“ anfällig. Doch politische Gewalt war für ihn, gerade im Sonderfall des Italiens der Siebzigerjahre, auch kein Tabu, im Gegenteil. Bomben detonierten täglich, ob sie von den Geheimdiensten, Regierungshelfern, Links- oder Rechtsradikalen oder der Mafia gelegt wurden, war selten leicht durchschaubar.

In diesem Klima entwickelte Negri seine ultralinken Ideen von den autonomen Subjekten, der Eigensinnigkeit der Kämpfenden etc. Da wurde eine kollektive widerständige Erfahrung beschworen und doch schimmerte schon ein radikaler Individualismus durch – die „Subjektivitäten“ sollten die Zwänge der kapitalistischen Apparatur abschütteln, eines irgendwie freien Lebens wegen. „Arbeitersabotage“ gegen das „Unternehmer-Kommando“, das waren Schlüsselworte des frühen Negri’schen Pamphletismus.

Jetzt ist Negri ein wenig altersweise, und freut sich, wie sehr sich die Realität seinen Weltdeutungen angenähert hat, wenn auch auf paradoxe, kuriose Weise. Die festgefügten Lager, Klassen und Identitäten haben sich aufgelöst – nicht weil die kämpfenden „Subjektivitäten“ das erstritten hätten, sondern weil es das Resultat des flexiblen, globalen Kapitalismus ist: Er produziert jetzt selbst die Vielfalt, die Negri vor dreißig Jahren beschworen hat. Wie durch einen Epochenbruch sind wir von den Siebzigerjahren geschieden, getrennt wie Urzeit von Moderne, nur die Akteure, die sind noch da (von den, nicht wenigen, Toten einmal abgesehen). Negri begegnet den alten Freunden, gewandelt zu neuen Selbstständigen: „Sie sind reich, aber sie verachten das Geld. Am Ende hatten sie alles besser vorausgesehen als andere.“

Leute, die ähnlich dachten wie er, seien heute im Exil, im Gefängnis, wirkten an einflussreicher Stelle oder bekleideten gar „Ämter in europäischen Regierungen“. Da spielt Negri auf Joschka Fischer an, oder auf seinen einstigen Vertrauten Thomas Schmid (heute FAZ-Kommentator). Oder, in völlig anderer Hinsicht, auf Adriano Sofri, eine Art italienischer Dany Cohn-Bendit. Nur: Während Cohn-Bendit EU-Parlamentarier ist, sitzt Sofri im Gefängnis.

Aus dem Exil kehrte er zurück, weil es im Exil kein Leben, keine Leidenschaft gibt

Doch das Seltsame an dem zartgliedrigen, schlohweißen Denker ist nun: Nichts, gar nichts erfüllt ihn mit Zorn, wenig stört ihn, und im Grunde freut ihn, dass es kam, wie es gekommen ist. Schließlich beweisen gerade die erstaunlichen Lebenswege, welche Möglichkeiten sich eröffnet haben, verglichen etwa mit den bleiernen Jahren – außer für jene freilich, die den ganzen Preis zu zahlen hatten und noch immer im Gefängnis sitzen.

Negri ist unabgeklärt und fröhlich-optimistisch. Das ist womöglich das Geheimnis seines Altersruhms. „Empire“ ist ja, anders als alle Jeremiaden von der Globalisierungsfalle, ein zukunftsfrohes Buch. Die Ich-AGs, die Nischenwerker, die Dynamik in der ehemals „Dritten Welt“, die vielen, die „ihr Ding“ machen, sie sind für Negri die Pflänzchen jener Emanzipation, die er sich, ein bisschen anders zwar, vor dreißig, vierzig Jahren vorstellte. Über jene, die sich über das Verschwinden der klassischen Arbeiterklasse oder die Krise des Nationalstaates grämen, kann Negri nur lachen: „Es gibt kein zurück.“ Und: „Es gibt eine unglaubliche Kreativität.“

Darum ist er aus dem Exil zurückgekehrt, weil es im Exil kein Leben, keine Leidenschaft gibt, etwas, wovor Negri offenbar die größte Angst hat. Die Rückkehr, sagt er, ähnelte „ein wenig dem Zug des Springers auf dem Schachbrett“. Und siehe da, plötzlich ist ihm wieder erlaubt, „in der ersten Reihe zu sein“. Das freut Negri sichtbar. „Das hatte ein bisschen etwas vom Baron Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.“

Negri ist, schießt einem da in den Kopf, womöglich der paradigmatische Linksradikale des Informationszeitalters: der Lobredner eigensinniger Subjektivitäten, die wissen, dass sie mit den vielen anderen, die „ihr Ding“ machen, gewiss wenig verbindet, außer eben dem Eigensinn, in dem unausrottbar der emanzipatorische Kern hockt. Und dieser Eigensinn, so paradox ist die Wirklichkeit, wird immerfort von der „wirklichen Bewegung“ (Karl Marx) selbst geschärft. Negri, was immer man Kritisches über ihn sagen mag, liebt es, mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse zu denken. „Das Schönste“, sagt er, „ist es, ‚gegen‘ etwas zu denken, ‚neu‘ zu denken.“ Die Negri’sche Geste, dieser Optimismus ist, wie viel Widerspruch im Einzelnen er immer provozieren mag, zumindest sympathisch. Und seiner prinzipiellen Perspektive ist ohnehin schwer zu widersprechen: dass es die Verhältnisse selbst sind, die jene Wünsche und Ambitionen inspirieren, die sich dann bisweilen als Rebellionen oder in Gestalt von Verweigerungsstrategien gegen diese Verhältnisse zurückwenden.

Antonio Negri: „Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens“, aus dem Französischen von Thomas Atzert, 240 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 17,90 €