: Hunde und Iren verboten
Zwischen allen Stühlen: Historisch ist Irland den USA verbunden, die politische Zukunft liegt auf dem europäischen Festland
Festung, Wagenburg oder Groß-WG? Die Europäische Union wird 2004 um zehn Beitrittsländer erweitert. Wie aber kommen das „alte“ und das „neue“ Europa in der Praxis miteinander klar? Und wie können sich die Beteiligten jenseits der großen Zusammenschlusspläne ihre kulturellen Eigenheiten erhalten?
von RALF SOTSCHECK
Es ist ziemlich genau 40 Jahre her. Damals, am 26. Juni 1963, war ganz Irland auf den Beinen, um einen Blick von John F. Kennedy zu erhaschen. Es war der erste Staatsbesuch eines US-Präsidenten in Irland. Kennedy hatte kurz zuvor in Berlin verkündet, dass er Berliner sei. Nun war er plötzlich Ire. „Irland ist nicht mein Geburtsland, aber es ist das Land, für das ich die größte Zuneigung habe“, sagte er. „Im Frühjahr komme ich ganz bestimmt zurück.“ Der Anschlag von Dallas verhinderte das.
Kennedy war „einer von uns“, wie so viele US-Präsidenten vor ihm und nach ihm, ein irischer Auswanderer der zweiten oder dritten Generation. Aber er war der Erste, der damit in den USA auf Stimmenfang ging. Kennedys Vorfahren waren Mitte des 19. Jahrhunderts vor der Hungersnot aus Wexford im Südosten Irlands geflüchtet. Wegen der Kartoffelpest war es zu einer Missernte gekommen. Den ersten Winter überstanden die meisten noch unter entsetzlichen Entbehrungen, doch als die Krankheit auch die nächsten Ernten vernichtete, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Zum Hunger gesellte sich eine Pest- und Typhusepidemie. Die englische Regierung exportierte weiterhin Getreide, Vieh und andere Lebensmittel nach Großbritannien und in die Kolonien. In Irland verhungerten eine Million Menschen, bis 1920 waren fast fünf Millionen Iren in die USA ausgewandert. Ein Sechstel der Auswanderer kam bei der Überfahrt auf den so genannten Sargschiffen oder nach der Ankunft in der Quarantäne ums Leben.
Die Auswanderung ging auch nach der irischen Teilunabhängigkeit 1922 weiter, weil der junge Staat kein Geld hatte, in Arbeitsplätze und Infrastruktur zu investieren. Der Freistaat Irland „war, wirtschaftlich gesehen, nicht mehr als die Guinness-Brauerei und ein großer Bauernhof“, wie die Irish Times einmal schrieb. Fast 70 Millionen Menschen in aller Welt berufen sich heute auf irische Wurzeln. Einer von ihnen, Frank McCourt, hat seine Jugend in Limerick und seine Emigration nach New York mit dem Buch „Die Asche meiner Mutter“ weltbekannt gemacht. Wie ihm erging es vielen Iren: Jedes zweite irische Kind, das im 20. Jahrhundert geboren wurde, ist später ausgewandert, die meisten in die USA. So hat sich zwischen den beiden Ländern ein besonderes Verhältnis entwickelt. Die Emigranten blieben der alten Heimat eng verbunden, sie wurden irischer, als sie es zuvor je waren, und sie blieben unter sich. Die Daheimgebliebenen waren froh über regelmäßige Päckchen aus Übersee, die Dinge enthielten, die es in Irland entweder nicht gab oder die man sich nicht leisten konnte.
Die Zeiten haben sich geändert, in den Neunzigerjahren mutierte das Armenhaus Europas zum „keltischen Tiger“. Das irische Wirtschaftswunder war alleine den US-Firmen zu verdanken, die einen Fuß in die Europäische Union bekommen wollten. Irland gehört zur Euro-Zone, die Arbeitnehmer sprechen Englisch und sind billig. 40 Prozent der US-Investitionen in Europa gingen in den letzten zehn Jahren nach Irland. Die Investitionen der US-Unternehmen haben sich in den Neunzigerjahren vervierfacht, die der irischen Unternehmen sind um ein Drittel zurückgegangen. Dadurch entstand eine duale Wirtschaft: Neben dynamischen, profitablen US-Unternehmen existiert eine schwerfällige, wenig profitable einheimische Ökonomie. Die Rezession in den USA hat Irland daher besonders getroffen – voriges Jahr gab es ein Nullwachstum.
Das spezielle Verhältnis zwischen Irland und den USA ist während des Irakkrieges auf eine harte Probe gestellt worden. Die Dubliner Regierung, die um Investoren bangte, erlaubte den US-Kampfflugzeugen auf dem Weg an den Golf die Zwischenlandung im westirischen Shannon. Das führte zu hitzigen Debatten um die irische Neutralität, die seit dem EU-Vertrag von Nizza in der Verfassung verankert ist. Damit sei eine militärische Neutralität gemeint, argumentierten die Politiker. Politisch stehe man selbstverständlich auf Seiten der westlichen Demokratien. Die Kriegsgegner begannen daraufhin, die US-Kampfflugzeuge, die in Shannon über Nacht parkten, zu demolieren.
Unter den US-amerikanischen Iren stieß die Debatte auf völliges Unverständnis. New Yorks Iren reagierten zutiefst wütend auf die ihrer Meinung nach heuchlerische Neutralität und die Kritik an George Bushs gerechtem Krieg gegen den Terror. Es erschien ihnen nicht nur undankbar, sondern grenzte an Verrat. Die Republik Irland ist in den Augen vieler US-Iren hoffnungslos anglisiert. Hinzu kam, dass ausgerechnet Großbritannien sich US-amerikanischer als die Iren gebärdete – das Land, das ihre Vorfahren aus der Heimat vertrieben hatte.
Die Hungersnot des 19. Jahrhunderts, die in Wirklichkeit ein Genozid war, hat sich tief in die irische Psyche eingegraben, sie prägt zum Teil bis heute das Verhältnis zu England. Nicht vergessen ist auch der Zynismus der anglikanischen Kirche, die hungernde Katholiken mit einem Teller Suppe zum Konvertieren bewegen wollte. Noch heute bezeichnen ältere Iren die Nachfahren dieser Konvertiten geringschätzig als „Soupers“, die ihren Glauben für einen Teller Suppe verraten haben.
Natürlich sind in den vergangenen zwei Jahrhunderten auch Millionen Iren nach Großbritannien ausgewandert. Sie haben dort Eisenbahnen gebaut, Bürohochhäuser in London, den Kanaltunnel. Doch für US-Emigranten lag die Heimat in weiter Ferne, für die Iren in Britannien dagegen nicht. Sie bekamen die Entwicklungen auf der Nachbarinsel mit, ihr Irlandbild ist nicht mit dem Zeitpunkt der Auswanderung eingefroren. Umgekehrt bekam man aber auch in Irland mit, wie die Iren in Großbritannien behandelt wurden. In Cartoons stellte man sie als Affen dar, in manchen Restaurants war Iren und Hunden der Zutritt verwehrt, bei Stellenangeboten brauchten sich Iren erst gar nicht zu bewerben. So viel hat sich seitdem nicht geändert: Ein schwarzer Ire, der nach London ausgewandert war, wurde neulich von einem Freund nach rassistischen Übergriffen gefragt. „Niemand kümmert sich dort um meine Hautfarbe“, antwortete er. „Erst wenn sie meinen Dubliner Dialekt hören, bekomme ich Ärger.“
Aber die Iren sind auch Wähler. Ein britischer Politiker sagte einmal: „In meinen Adern fließt irisches Blut. Meine Mutter wurde in der Wohnung über dem Hardware-Laden in der Hauptstraße von Ballyshannon in der Grafschaft Donegal geboren. Als Kind habe ich praktisch jede Sommerferien dort verbracht, bis der Nordirlandkonflikt ausbrach.“ Wäre er ein guter Fußballer gewesen, hätte er einen irischen Pass bekommen, um in der Nationalmannschaft spielen zu können. So aber wurde er Premierminister von Großbritannien. Tony Blairs Bekenntnis zu seinen irischen Wurzeln war an seinen Wahlkreis in Nordengland gerichtet: „Jede Gemeinde dort oben weiß, dass ihre Wurzeln in der irischen Auswanderung zu den Bergwerken nach Britannien liegen“, sagte Blair.
Und Europa? Die 2,5 Milliarden Euro, die jedes Jahr aus dem EU-Topf überwiesen werden, sind vor allem in die Verbesserung der Infrastruktur und in Bildung gesteckt worden. Die Iren sind gute Europäer. Sie haben die EU-Verträge stets abgesegnet, und auch der Vertrag von Nizza, der erst im zweiten Anlauf durchkam, war zunächst aus innenpolitischen Gründen abgelehnt worden, um den korrupten Politikern eine Lektion zu erteilen. Immerhin musste letzten Herbst ausgerechnet der Mann zurücktreten, der die Regierungskampagne für den Nizza-Vertrag geleitet hatte: P. J. Mara besaß ein Geheimkonto im Ausland, auf das Gelder flossen, die er der Steuer hinterzogen hatte.
Für die Iren ist das europäische Festland dennoch weit weg. Sie sprechen von „Europa“, wenn sie das Festland meinen. Es mag die Sprachbarriere sein, denn nur die wenigsten Iren können eine Fremdsprache. Langsam ändert sich die Einstellung, vielleicht hängt es mit dem Wirtschaftsaufschwung zusammen, der es vielen ermöglicht, in Italien, Spanien oder Frankreich Urlaub zu machen. Das Interesse an Deutschland hat mit dem Mauerfall zu tun. Als in Großbritannien Jobs auf dem Bau knapp wurden, begann in Berlin der Bauboom. Viele Gelegenheitsarbeiter blieben in Deutschland und zogen Freunde und Verwandte nach.
Und dann ist da auch noch Brüssel. Es gibt wohl kein Land in der EU, das die Direktiven aus Brüssel dermaßen wortgetreu umsetzt. Die Grüne Insel, die einst als unbürokratisch und locker im Umgang mit Behörden galt, ist längst zum Land der Formblätter geworden. Das ist der Preis des Aufschwungs, finden die Iren. Den anderen Preis musste die katholische Kirche zahlen. Nach Rom schaut heute kaum noch ein Ire, und das liegt nicht allein am plötzlichen Reichtum, sondern vor allem an den zahlreichen Pädophilie-Skandalen, in die Irlands katholische Kirche verwickelt ist.
Die Iren orientieren sich heute in alle Richtungen. Brüssel bestimmt zunehmend den Alltag, aus den USA werden – mit fünfjähriger Verspätung – bestimmte Trends importiert, wie das Rauchverbot, das ab Januar in allen irischen Kneipen und Restaurants gelten soll, und mit Großbritannien ist man kulturell und auch wirtschaftlich aufs Engste verbunden. Es ist eine typisch irische Lösung: England wird als Oberbegriff abgelehnt, was sich immer wieder bei Fußballspielen äußert, aber der individuelle Engländer wird akzeptiert. Mehr jedenfalls als die eigenen Politiker, die zum Korruptesten gehören, das die Branche zu bieten hat.
Was wäre, wenn die Iren damals im Unabhängigkeitskrieg unterlegen wären und heute noch von London aus regiert würden? „Wenn die Briten herrschen und uns ausbeuten und berauben würden, wäre das irgendwie noch zu verstehen“, sagte der Journalist Tom Quinn einmal. „Aber von unseren eigenen Leuten ausgebeutet und beraubt zu werden, ist überhaupt nicht zu verstehen. Da kommt zum Schaden noch die Demütigung hinzu.“