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Archiv-Artikel

„Die arabische Welt ist eher reaktiv als aktiv“, sagt Ahmad Badawi

Die USA wollen im Nahen Osten Reformen anstoßen – aber dafür müssen sie die Gesellschaften verstehen lernen

taz: Derzeit wird viel über die Reformen in der arabischen Welt diskutiert, zum Beispiel auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Tunis oder dem Treffen der G-8-Staaten in Georgia. Doch die Regimes stehen nicht nur von außen, sondern auch von innen unter Druck. Was ist für die Machthaber gefährlicher?

Ahmad Badawi: Der Druck aus ihrer eigenen Gesellschaft. Es gibt eine Minderheit, eine Elite, die eine politische Öffnung will, aber das sind Eliten, die sich untereinander bekämpfen. Ich glaube nicht, dass es für die Leute auf der Straße, die die Regierung unter Druck setzen, einen großen Unterschied macht, wer an der Macht ist. Diese Leute wollen Arbeit, eine Gesundheitsversorgung, eine bessere Behandlung in Polizeistationen, und sie brauchen Brot. Diese Dinge sind wichtiger als die große Politik.

Können Initiativen von außen, wie etwa die des „Greater Middle East“ der USA, da hilfreich sein?

Absolut. Etwas Gutes kann aus allem entstehen – gleich ob es von außen oder von innen kommt. Doch es scheint, als sei das Motiv der USA eher die Sorge um ihre eigene Sicherheit und wirtschaftlichen Interessen. Das ist nicht sehr ehrlich. Die USA verfügen über kein differenziertes Verständnis der Gesellschaften, die sie verändern wollen. Die USA arbeiten nach einer Art Blaupause – so soll es ein, so wird es sein. Und das wird nicht funktionieren.

Warum nicht? Wo sind Hindernisse?

Erstens gibt es das Hindernis des Gewichts der Geschichte. Die Regeln, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, sind für Personen auf allen Ebenen der Gesellschaft mit Machtinteressen verbunden. Daher ist es sehr schwierig, neue Regeln einzuführen, die notwendigerweise die Interessen der Personen bedrohen, die schon da sind.

Ein weiteres Problem ist die ungleichmäßige Verteilung des Besitzes. Wir wollen, dass die Leute wählen gehen, dass sie zum Beispiel keinen Abfall auf die Straße werfen und sie die Ampeln respektieren sollten. Aber warum sollen sie das tun, wenn sie sehen, dass ein großer Teil des gesellschaftlichen Reichtums entweder in den Händen einer kleinen nationalen Elite ist oder komplett außer Landes geht? Das bietet keinen Anreiz.

Der Prozess der Veränderung wäre eine Modernisierung der Gesellschaft?

Ja, ob es uns gefällt oder nicht. Es geht um Modernisierung und Verwestlichung. Unsere Rolle als Menschen aus der arabischen Welt ist es zu definieren, was wir aus dieser Mischung übernehmen wollen. Wenn wir beispielsweise über Wohlfahrt sprechen, gibt es ein US-amerikanisches Modell, ein angelsächsisches, ein deutsches, ein chinesisches oder ein kubanisches. Welches wollen wir? Das wissen wir nicht. Wir sind eher reaktiv als aktiv, auch das ist ein großes Problem.

Wenn man über das kulturelle Umfeld für Reformen in der arabischen Welt redet, denkt man im Westen automatisch an den Islam. In Ägypten warnen viele vor zu schnellen politischen Reformen, weil die Muslimbrüder an die Macht kommen könnten. Ist der politische Islam ein Entwicklungshindernis?

Das ist eine berechtigte Angst. Aber wir wissen nicht, was Islam ist. Religion ist nichts anderes als eine leere Hülle. Auch das Christentum wurde bemüht, um die Apartheid zu verteidigen, der Liberalismus wurde benutzt, um Mord zu verteidigen. Mit dem Islam ist es das Gleiche. Es kommt darauf an, wie die Menschen die Religion interpretieren. Wenn es den Leuten gut geht, radikalisiert sich die Gesellschaft nicht. Dann nimmt das Bedürfnis nach Religion stark ab.

Muss man der Radikalisierung der Gesellschaften entgegenwirken, um Reformen durchzuführen?

Das ist sehr wichtig. Sonst kann es keine Reformen geben, denn die Leute werden sich schlicht nicht an die neuen Spielregeln halten. Das ist ein Paradox: Um die Demokratie zu fördern, müsste man eigentlich alle Medien zensieren. Sonst sehen die Menschen auch weiterhin, was in Palästina oder im Irak passiert. Wäre das ein guter Vorschlag? Kaum.

Ist die Lösung des Nahostkonflikts eine Vorbedingung für Reformen in der arabischen Welt?

Nicht direkt, denn Gesellschaften können sich unabhängig von der Lage in den Nachbarländern reformieren. Aber der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein emotionales Hindernis. Das Argument, ohne die Lösung des Konflikts könne man keine Reformen durchführen, ist falsch, wenn es von dem Mitglied einer arabischen Regierung kommt. Es ist nicht falsch, wenn es von einem Palästinenser kommt. Wenn es heißt, vor dem Ende der israelischen Besatzung müsse es erst Reformen in den palästinensischen Gebieten geben, ist das auch falsch. Es gibt eine Ideologie, einen Diskurs des Widerstands, den man berücksichtigen muss. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein Hindernis im Kopf. INTERVIEW: BEATE SEEL