Einhundertelf Zeilen Regen

Plötzlich war er da. Der lang erwartete Regen. Er kam von Südwesten. Zog nach Nordosten. Ein Glücksgefühl machte sich breit. Der Himmel zeigte eine mäandernde Farbpalette. Reinickendorf saß auf dem Trockenen. Lankwitz klagte über volle Keller

von WALTRAUD SCHWAB

Es mag an den Isobaren liegen. Deshalb kommt der Regen nicht, obwohl er vorhergesagt wird. Wenn der Abstand zwischen den Isobaren zu groß sei, wisse niemand, wo Blitz, Donner, Hagel und Sturm niedergingen. Auch nicht Sven Plöger, der Mann vom Wetterbericht nach den „Tagesthemen“, der seine Unschuld beweisen wollte, als er dies sagte. Ohnehin fielen die Gewitter derzeit meist in sich zusammen, auch das war zu lernen, obwohl nicht klar ist, wie so was geht.

Aus all diesen Gründen jedenfalls ist der Regen in Berlin bisher nicht angekommen. Oder nur teilweise angekommen. Partiell eben. Wie gestern Nachmittag. Plötzlich war er da. Heftig. Leidenschaftlich. Kurz. Ein überraschendes Aufatmen. Es geht doch. Es kam von Südwesten. Zog nach Nordosten. Eine „Gewitterfront“, heißt es, sei durchgezogen. „Front, Frontlinie, Kampfzone, Frontabschnitt, Hauptkampffeld …“ – so steht es im Duden. Und dennoch, ein Glücksgefühl macht sich breit: Endlich Regen. Endlich Wasser. Oder Wasserinvasion? Schön war es.

Als es anfing, blieben die Menschen in der Friedrichstraße stehen, wandten den Blick nach oben. Staunten. Wo vorher Blau war, war nun Grau, nein, schweres dunkles Lila, gefärbt mit Schwarz, angereichert mit Anthrazit, durchdrungen von oxidgrünen Schlieren. Plötzlich war ihr Himmel eine mäandernde Farbpalette, auf der alles ineinander floss, und dann durchzuckte der Blitz das unbeständige Arrangement. Kinder streckten ihre Hände aus, fingen die Tropfen auf. „Es regnet“, sagte ein Mädchen. Es umschloss das Nass auf seiner Hand, als wäre es ein Marienkäfer, ein Schmetterling. Lang hielt die Freude über das Einzigartige nicht an.

Plötzlich war der Regen schneller, nicht ein Tropfen, viele gabe es. Die Leute rannten in Häusereingänge, suchten Schutz unter Balkonen, legten sich die Aktentaschen auf die Köpfe, spannten verstaubte Regenschirme auf, sagten: „Es regnet“, und nickten dabei jenen Wildfremden zu, die sich mit ihnen unter den Hausvorsprüngen zu schützen suchten. Sie sagten: „Es hagelt“, als sie Hagel sahen. Sie sagten: „Wie mutig“, und lachten den Mutigen zu, die sich trauten, über schnell größer werdende Pfützen zu springen und sich nass regnen zu lassen. Deren Haare wurden plötzlich dunkel und glatt, deren Gesichter begannen zu glänzen, ihre Körper zeichneten sich unter den nassen Kleidern ab, der Stoff fest geklebt an Hintern und Brust.

Einige flüchteten in die U-Bahnen. Aus altem Reflex aus früheren Sommern. In den Zügen trafen sie auf Ahnungslose, die eingestiegen waren, als es noch trocken, noch schwül, noch wie immer war. Auf die Nassgeregneten reagierten sie mit Neugier. Sie schauten sie an, studierten die sich unter den Kleidern abzeichnenden Körper, freuten sich, sympathisierten mit den Nassen. Ein Bauarbeiter, der müde in seinem Sitz saß, lächelte gar.

Später stiegen die Leute, die gegen Norden fuhren, in Reinickendorf aus und blickten auf trockene Straßen. Das „Sommergewitter“, von dem in den Meldungen der Nachrichtenagenturen die Rede war und auf das sie gehofft hatten, war niemals angekommen im Norden. In Lichtenrade, in Lankwitz aber, dort soll es geregnet haben, dort wird von „Unwetter“ gesprochen und von „voll gelaufenen Kellern“ und Einsätzen der Feuerwehr. „Allein dort seien zwischen 14 und 15 Uhr 18 Wasserschäden gemeldet worden“, ist zu lesen.