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Archiv-Artikel

Jugendliche in Marokko

betr.: „Die neusten Webtraditionen“, taz vom 23. 6. 04

So interessant das Buch von Fatima Mernissi über die Jugendlichen im Süden Marokkos auch ist, es beschreibt die Lebenswirklichkeit doch nur einer Minderheit von Jugendlichen in Marokko und speziell in Marrakesch. Die Cyber-Cafés, die dort boomen und vor allem von Jugendlichen genutzt werden, sind natürlich soziologisch hochinteressante Orte. Das Internet hat das Potenzial, Gesellschaften wie die Marokkos oder das Lebensgefühl und die Lebenswirklichkeit z. B. von Jugendlichen zu verändern.

Und unbestritten hat Fatima Mernissi ihre Studie zu den „Cyber-Jugendlichen“ höchst spannend gestaltet und facettenreich geschrieben. Doch zumindest manche Passagen, und gerade auch der taz-Auszug, könnten den Eindruck erwecken, dass alle Jugendlichen in Marrakesch im Netz surfen, ständig „angeschlossen“ sind. Dies wird aber der Lebensrealität vieler Jugendlicher, die z. B. Analphabeten sind oder sich mit einfachsten Dienstleistungen durch das Leben schlagen müssen, nicht gerecht. Denn was allgemein für Gesellschaften im Übergang gilt, trifft auch konkret für die Situation von Jugendlichen in Marrakesch zu: Sie ist widersprüchlich, keineswegs homogen. Und vielleicht haben die im Internet surfenden Jugendlichen Freunde, die sich als Schuhputzer das Geld verdienen, oder sie schauen gelegentlich auch den Schlangenbeschwörern zu. Mernissi sieht den demokratischen Impetus, der in der neuen Cyber-Kultur liegt, und möchte ihn mit ihrem Buch offensichtlich nicht nur beschreiben, sondern selbst fördern. Bei allem Respekt vor der Autorin und ihrem Werk: Dadurch läuft sie Gefahr, ein zwar interessantes, aber letztlich einseitiges Bild von der Lebensrealität marokkanischer Jugendlicher zu entwerfen. THOMAS SCHMITT, Bayreuth