piwik no script img

Archiv-Artikel

Behinderte kritisieren Regierung

Der Bundeskongress „Gleich richtig stellen“ drängt in Bremen auf ein Antidiskriminierungsgesetz. Behindertenvertreter warnen vor Negativfolgen aktueller Gesetzesreformen. Ein Regierungsvertreter betont: „Reform ist für uns kein Sparvorhaben“

Von ede

taz ■ „Gleich richtig stellen“ – der Titel des Bundeskongresses zur Gleichstellung Behinderter am Wochenende in Bremen war Programm und Provokation zugleich: Behinderte Menschen in Deutschland fürchten – trotz rechtlicher Fortschritte in den letzten Jahren – demnächst durch geplante Reformen im Gesundheits-, Betreuungs- und Bundessozialhilfegesetz vom Sparzwang an die Wand gedrückt zu werden. Das wurde auf mehreren Podien der Tagung gleich richtig gestellt. Ebenso, dass der Rechtsweg gegen manche Negativfolgen der Reformen mangels privater Klagemöglichkeit gegen Diskriminierung immer noch ausgeschlossen sei – weil die Bundesregierung das versprochene Antidiskriminierungsgesetz bis heute verschleppe, so der Konsens unter den über hundert KongressteilnehmerInnen.

„Theorieversessene Juristen offenbaren Unfähigkeit“, schimpfte der Bundesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen, Karl Hermann Haack (SPD). Es habe doch gute Vorlagen gegeben, die zudem von behinderten Rechtsexperten – unter ihnen der Bremer Richter Horst Frehe – erarbeitet wurden.

Gerade jetzt halten VertreterInnen von Interessengruppen behinderter Menschen ein solches zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz für besonders dringlich. „Nehmen Sie nur die Gesundheitsreform“, erklärteHaack. Zahnersatz, Arbeitsunfähigkeit, alles solle privat versichert werden. „Aber private Versicherungen nehmen keine Behinderten – oder nur zu deutlich schlechteren Konditionen“, führte er aus. Die geplante Gesetzgebung schließe behinderte Menschen also vom Versicherungssystem aus. Dagegen könnte eine zivilrechtliche Klage auf Grundlage eines Antidiskriminierungsgesetzes helfen. Ebenso gegen Banken, Urlaubs- und Reiseanbieter sowie Hauseigentümer, die Verträge mit Behinderten ablehnen können.

Applaus bekamen die niedersächsische FDP-Politikerin Gesine Meißen und der Grüne Bundespolitiker Markus Kurth für ähnliche Statements bei der Abschlussdiskussion. Doch bekamen die Politiker zugleich scharfe Kritik zu hören. „Ich bin erstaunt, dass hier keiner deutlich sagt: Das System wird umgekrempelt. Dabei soll der Staat entlastet werden, es geht nicht darum, Behinderte zu schützen“, fuhr Klaus Lachwitz von der Bundesvereinigung Lebenshilfe scharfe Geschütze auf. Wer sich darauf verlasse, dass behinderte Menschen nach der Gesundheitsreform noch Taxifahrten zum Arzt oder in die Klinik erstattet bekämen, könne sich getäuscht sehen. Die Leistungen der an die Sozialhilfe gebundenen Krankenhilfe orientierten sich stets an den Erstattungskriterien der gesetzlichen Krankenversicherung – die dies aus ihrem Leistungskatalog streichen wolle. „Wir müssen das alles mit höchster Aufmerksamkeit beobachten“, mahnte Lachwitz, während Rainer Wilmerstadt vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziales klar stellte: „Für uns ist die Bundessozialhilfereform kein Sparvorhaben.“

Doch Wachsamkeit forderte Lachwitz auch bei den Reformvorhaben zum Betreuungsgesetz. Vertreter von Bund und Ländern wollten offenbar die Kosten für Betreuung senken, um die Justiz finanziell zu entlasten. So sähen Pläne aus Nordrhein-Westfalen vor, die Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Betreuer auf 180 Euro monatlich zu halbieren. Für Hauptamtliche solle es Pauschalen geben. „Wir kommen wieder dahin, dass Einzelne möglichst viele Fälle betreuen“, warnte er.

Zugleich forderte Lachwitz, neue Allianzen für ein Antidiskriminierungsgesetz zu suchen. Behinderte müssten verstärkt auf Richter-, Anwalts- und Wirtschaftsverbände zugehen. „Für die ist die Vertragsfreiheit von Partnern eine heilige Kuh“ – aber gegen sie sei ein Antidiskriminierungsgesetz schwer durchsetzbar. ede