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Archiv-Artikel

jazzkolumne Das Wissen und Vermissen der Alten

In diesem New Yorker Jazzsommer werden die einen gefeiert, die anderen müssen ins Obdachlosenheim

Wer noch Familie hat, kann vielleicht da unterkommen. In der von Martin Scorsese produzierten Bluesfilmserie tauchen sie immer wieder auf, zahnlose Alte, die einst den Blues sangen und spielten und jetzt in abgelegenen Farmhäusern ihr Leben fristen, verarmt, vergessen. Was auf dem Land der Blues, war in den Städten der Jazz – die große amerikanische Musik des letzten Jahrhunderts, meist von Schwarzen erfunden.

Wenn man in diesen Tagen die Jazzline-Nummer der Jazz Foundation of America wählt, hört man die Stimme des Geigers Billy Bang mit einer Konzertübersicht für die nächsten Tagen. Am Ende der Ansage fordert Bang auf, für die Jazz Foundation zu spenden, „Community Service“ nennt er diesen Einsatz. Gerade kündigte der Präsident der Jazz Foundation, R. Jarrett Lillien, an, dass man für die Errichtung einer Musikerresidenz im New Yorker Stadtteil Harlem sammelt, die vierzig bedürftigen alten Jazz- und Blues-Musikern Wohn- und Lebensraum bieten soll, ein Novum in der Geschichte des Jazz. Viele alte Jazzmusiker müssten ohne familiäre Unterstützung leben, erläuterte Lillien während der Jazz-Awards-Verleihung der amerikanischen Jazzjournalistenvereinigung Mitte Juni in New York, sie mögen in den Bands von Art Blakey, Miles Davis oder Nina Simone als Sidemen gearbeitet haben und hätten jetzt weder Rücklagen noch Rentenansprüche. Tantiemen aus Plattenverkäufen oder Songrechten seien auch nicht zu erwarten. Oft könnten sie die Miete nicht mehr zahlen und werden obdachlos, allein in den vergangenen zwei Jahren habe man sich in 300 solchen Fällen engagiert – Tendenz: bedrohlich steigend.

Wie man dem ständigen Alltagsdruck eines in New York lebenden Jazzmusikers entkommen könne, damit wenigstens für Momente mal Raum und Zeit für kreative Arbeit sei, fragt ein junger Schwarzer den letzten Überlebenden des historischen John Coltrane Quartetts, McCoy Tyner, während einer Master Class im New Yorker Jazzclub Blue Note. Und Tyner antwortet darauf mit einem kurzen Bericht über die Anfänge. Er war 17, als er mit Coltrane zu spielen begann, und alles habe sich nur um die Musik gedreht. Darum, neue Sounds zu kreieren und einen eigenen Stil. Das sei die Mission, die ihn nie mehr losgelassen habe, das „Coltrane College“. Coltrane habe immer nur nach neuen Ausdrucksformen in der Musik gesucht, zwischen den Sets und auf dem Hotelzimmer, bis er vor Erschöpfung einschlief. In den letzten zwei Jahren, Coltrane starb im Sommer 1967, habe er auch seine Konzerte für diese Suche genutzt, bis er so far out war, dass Tyner seine Rolle in der Band nicht mehr verstand und ging. Nein, eine Trennung zwischen dem wirklichen und dem kreativen Leben gebe es nicht, resümiert Tyner.

„It’s my life, it’s my religion“, verkündet Roy Haynes, der gerade bei der Jazz-Awards-Verleihung als bester Schlagzeuger ausgezeichnet wurde. Im vergangenen Jahr hatte der junge Schlagzeuger Matt Wilson den Preis erhalten und Kritik angemeldet. Wie könne es sein, dass er ausgezeichnet werde, obwohl seine Idole, Roy Haynes und Elvin Jones, noch am Leben und aktiv seien, hatte Wilson damals gefragt. Jetzt ist Elvin Jones tot.

Der New Yorker Jazz ist in diesem Sommer geprägt vom Wissen und Vermissen der Alten. Abschied von Ray Charles, Steve Lacy und Elvin Jones auf der einen Seite, überragende Konzerte von über Siebzigjährigen auf der anderen. Allen voran der Altsaxofonist Ornette Coleman, der auf Mitte 70 zugeht und zu den teuersten Acts der Jazzgeschichte zählt. Mit Coleman verliere man Geld, verraten die Macher des JVC Jazz Festivals New York, selbst wenn die Carnegie Hall bis auf den letzten Platz ausverkaufen könne, müsste man zubuttern, doch ohne ihn wolle man jetzt auch nicht mehr. Sein neues Quartett mit zwei Bassisten und Schlagzeug hat sich seit der Premiere vor einem Jahr zu einer derart kreativen und kräftigen Einheit entwickelt, wie sie auf der aktuellen Konzertszene ohnegleichen ist. In einem leuchtend blauen Anzug, mit einem dezenten dunklen an einer Seite mit roten, grünen und gelben Federn dekorierten Strohhut und einem weißen Altsaxofon betritt Coleman die Bühne und erhält Standingovations. Als junger Mann, aufgewachsen in Armut und einem extrem rassistischen Spannungsfeld in Forth Worth, Texas, machte er Erfahrungen, die er in dem Satz, „Wer in der Öffentlichkeit Saxofon spielt, lebt gefährlich“ zusammenfasste.

„Ich haben nicht so viel über die Musik gesprochen, weil ich mich durch sie ausdrücke“, sagte der musikalische Revolutionär Coleman später in den Liner Notes zu seiner Platte „This Is Our Music“. 45 Jahre später ist dem Programmheft ein Zettel beigelegt, auf dem namentlich zehn neue Kompositionen verzeichnet sind, die Coleman spielen wird. Songtitel wie „Air Raid“, „Crying Without Tears“ und „Song World“ haben mehr Bedeutung als Nummern, erläutert Coleman jetzt, sie repräsentieren eine Art des Denkens, die hinter dem musikalischem Konzept steht. Zum Schluss steht Coleman, klein und hager, auf der großen Bühne und genießt den Respekt. Bis sein Sohn, Schlagzeuger und Manager Denardo, ihm das Zeichen gibt für die Zugabe, Colemans bekannteste Komposition „Lonely Woman“. Richtig hippe Musik hat Miles Davis dieses Stück mal genannt, Aufnahmen, die klingen, als seien sie im Himmel produziert worden. CHRISTIAN BROECKING