: „Die Zivilgesellschaft stärken“
Die Ministerin für Wiederaufbau und Entwicklung der Region Kurdistan-Irak, Nasreen M. Sideek Barwari, über den Unterschied zwischen Widerstandskämpfern und Terroristen sowie die Rolle der NGOs und Exiliraker beim Wiederaufbau des Landes
Interview RICHARD HERDING
taz: Militärische Aktionen, die von nichtstaatlichen Organisationen ausgehen, können hochgerüstete Staaten existenziell herausfordern. Die jetzige US-Regierung behandelt deshalb alle nichtstaatlichen Militärgruppen automatisch als Terroristen. Muss das so sein?
Nasreen M. Sideek Barwari: Der 11. September hat die Welt grundlegend verändert – so wie der Erste Weltkrieg den Völkerbund hervorgebracht hat, der Zweite Weltkrieg die Vereinten Nationen mit den beiden „Weltpolizisten“ USA und UdSSR. Jetzt wurden die USA aus der Isolierung herausgeholt, sie mussten sich einfach mit der Weltpolitik beschäftigen, eine unglückliche, aber im Endeffekt gute Wendung, denn Saddam war eine Bedrohung für die ganze Welt.
Obwohl keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden und keine Verbindung zu al-Qaida?
Mir reichen die Giftgasangriffe auf die KurdInnen, das Abschlachten von Schiiten, und die Drohung, sich mit den Al-Qaida-Terroristen zu verbinden. Sollte das für Generationen von Kindern und Kindeskindern fortgesetzt werden?
Können sich legitime WiderstandskämpferInnen von Terroristen abgrenzen? Eine Art nichtstaatliches Kriegsrecht entwickeln?
Die kurdische Bewegung hat sich immer in dieser Weise abgegrenzt. Sie hat friedliche Regionen geschützt, nur an den Grenzen den bewaffneten Kampf gegen die zentralen Regierungen geführt. Ich rede auch nicht von Guerilla, sondern ausschließlich von Peschmerga, und das heißt: Menschen, die zum Sterben – nicht zum Töten – bereit sind. Es gibt keine Selbstmordattentate, keine Aktionen gegen die Bevölkerung, nur gegen die Armee. Und das bedeutet, niemals anzugreifen, sondern nur sich selbst zu verteidigen. Wie soll schließlich aus Leuten, die heute ihr eigenes Volk terrorisieren, morgen eine gute Führung werden?
Welche Mittel nutzen Sie, um eine Öffentlichkeit herzustellen, die Demokratie möglich macht?
Zurzeit fühlen wir uns in Kurdistan auch deshalb so unvergleichlich viel sicherer, weil das „goldene Zeitalter“ der Medien bei uns angebrochen ist: durch die Freigabe des Internetgebrauchs seit dem Sturz des Saddam-Regimes sind wir mit der Welt verbunden, können Freunde in allen Regierungen erreichen, und die Regierungen scheuen sich vor einer negativen öffentlichen Meinung.
Haben die kurdischen Peschmerga ihren nichtterroristischen Verhaltenskodex auch als Selbstverpflichtung bekannt gemacht?
Zum Beispiel auf der Website der Kurdischen Demokratischen Partei machen sie sehr deutlich, dass ihre militärischen Aktionen im Unterschied zum Terrorismus ausschließlich der Selbstverteidigung dienten.
Wie beurteilen Sie die Ansätze „nichtstaatlicher Friedensstiftung“, etwa die Unarmed Bodyguards der Peace Brigades International, die im Irakkonflikt versuchten, sich gegen die Bombardierung Bagdads als menschliche Schutzschilde aufzustellen?
Haben diese Menschen verstanden, wie die Situation wirklich war? Wo waren sie denn gewesen, als Halabdscha mit Giftgas attackiert wurde? Jetzt brauchen wir solche Leute, jetzt brauchen wir Friedenssicherung durch NGOs: gegen diejenigen, die auf eigene Faust verhasste Mitglieder der Baath-Partei umbringen wollen, gegen diejenigen, die Rache nehmen wollen für die Vergewaltigung ihrer Töchter und den Raub ihres Eigentums durch Saddams Personal. Ich sage hier bei meinem Besuch in Deutschland: Wir wollen, dass die Friedensbewegungen der Welt in unser Land kommen und uns helfen, die Wunden zu heilen. Besatzung durch die USA – Befreiung durch die USA. Auf jeden Fall brauchen wir Hilfe, damit kein Bürgerkrieg ausbricht, wenn die amerikanischen Truppen abziehen. Es muss eine Kultur der Toleranz gefördert werden zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen, eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung.
Im Irak muss ein Staat aus religiösen und ethnischen Gruppierungen – bis hin zu Stammes- oder verzweigten Verwandtschaftsverbänden gebildet werden, der nur teilweise dem Einfluss politischer Parteien unterliegt. Was ist die Rolle von NGOs?
Wir brauchen einen Wiederaufbau der Köpfe und Herzen im Irak, im Sinne einer aktiven Teilnahme. Das ist ein Prozess der Selbsterziehung, in dem die NGOs eine entscheidende Rolle spielen. Auch die Parteien werden ja teils von Familien, teils von Ideologien bestimmt. Die gewählten, die verfassungsmäßigen Kräfte müssen handeln. Politische, soziale und ökonomische Gruppen müssen Druck auf die Behörden ausüben, damit sie ihre Aufgaben richtig erfüllen.
Wie lässt sich verhindern, dass diese Strukturen, die ja noch lange nicht eingespielt sind, Beute der „organisierten Kriminalität“, also mafiaähnlicher Strukturen, werden?
Die Zivilgesellschaft einzubeziehen ist der beste Schutz für den Aufbau einer Demokratie, die widerstandsfähig ist gegen die organisierte Kriminalität. Auch im Rechtssystem und in den Institutionen muss dieser Erziehungsprozess überall und ständig präsent sein, um dieser Gefahr zu begegnen. Und die Träger dieses existenziell wichtigen Bildungsvorgangs müssen die NGOs sein, die zivilgesellschaftlichen Initiativen.
Welche Rolle spielt die ImmigrantInnenszene in Deutschland dabei?
Länder mit der Erfahrung von Diktaturen und Krieg können und müssen im Wiederaufbau eines Landes, im Aufbau einer Demokratie eine besondere Herausforderung sehen. Deshalb appellieren wir für den Irak der Zukunft, der ja interkulturell und föderal sein muss, an die NGOs in Deutschland ganz allgemein und darüber hinaus an die ExilkurdInnen, -irakerInnen und -türkInnen. Dabei geht es um humanitäre Hilfe, aber auch um Erziehungswesen, Umweltschutz, zensurfreie Öffentlichkeit. Dass den Rechten von Frauen und Kindern dabei Priorität zukommen muss, ist klar: Sie haben am meisten zu leiden, wenn die Schulen geschlossen sind, die Wasserversorgung zerstört, das Gesundheitswesen in katastrophalem Zustand ist und die Banken geplündert werden. Das kurdische Modell von Demokratie, immerhin die Erfahrung von vier Millionen Menschen im Irak, könnte mit dieser Hilfe zum Vorbild für das ganze Land werden. Aber Voraussetzung ist immer der Druck von unten.
aus dem Englischen von R. Herding, ID Medienpraxis