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Archiv-Artikel

„Die Geste des Verzeihens kann unerträglich sein“, sagt Klaus-Michael Kodalle

Nur in einem Klima der Versöhnung ist Aufarbeitung möglich. Aber ein Recht auf Verzeihung gibt es nicht

taz: In Berlin soll Hilde Schramm mit dem Mendelsohn-Preis geehrt werden. Allerdings nicht in einer Synagoge, weil sie die Tochter des NS-Architekten Albert Speer ist. Sie hat viel für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden getan. Haben die Mitglieder der jüdischen Gemeinde dennoch das Recht, Schramm ihre Geburt nicht zu verzeihen?

Klaus-Michael Kodalle: Wir können die Taten unserer Vorfahren nicht ungeschehen machen, aber es gibt auch keinen Grund, sich stellvertretend moralisch schuldig zu fühlen. Allerdings: Als Deutscher habe ich die Pflicht, mich zum Holocaust zu verhalten, auch wenn ich für ihn nicht verantwortlich bin. Hilde Schramm hat dies vorbildlich getan, indem sie sich so nachdrücklich für Versöhnung eingesetzt hat. Hier wird anscheinend an der These von der nicht zu tilgenden Kollektivschuld festgehalten. Freilich gilt auch: Es gibt kein Recht auf Verzeihung – man muss stets damit rechnen, dass Verzeihung verweigert wird.

Sie können die Haltung gegenüber Hilde Schramm nicht nachvollziehen?

Ich bedauere sie. Hier kommt offensichtlich ein häufig zu beobachtendes Phänomen ins Spiel: Menschen, die unter der Barbarei unsäglich gelitten haben, waren nicht selten eher bereit, auf die ehemaligen Feinde zuzugehen, als deren Nachkommen, die oft viel unnachsichtiger sind als die eigentlichen Opfer.

Warum?

Weil die Nachkommen die Leidensgeschichte der Vorfahren zu einem Wesenselement ihrer kollektiven Identität machen! Das hat zur Konsequenz, dass auch die Schuld der Täter verewigt wird. Wer als Jude zum Beispiel an Gott nicht mehr glaubt, dem wird womöglich der Holocaust zur Identitätsbestimmung. Ein Klima der Aussöhnung ist dann natürlich kaum möglich, denn es wäre ja geradezu identitätsgefährdend.

Holocaust, Zweiter Weltkrieg, der Völkermord an den Herero – diese Themen sind derzeit stark in der Diskussion. Ist Verzeihen ein deutsches Thema?

Nein, das gibt es in ganz Europa, Lateinamerika und Asien. Oder denken Sie an die Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung in Afrika.

Wie viel Wahrheit verträgt Versöhnung eigentlich?

Das Verhältnis zwischen Versöhnung und Wahrheit ist ambivalent. So lange Unrecht verharmlost oder verleugnet und nicht öffentlich anerkannt wird, haben die Opfer keine Chance zu vergessen und erst recht nicht: zu vergeben. Und die Täter? Sie bleiben auf ihre Täterrolle fixiert, was in der Regel mit Lüge und Verdrängung einhergeht. Also: Keine Versöhnung ohne Wahrhaftigkeit. Allerdings wage ich die Behauptung: Der Wille zur Versöhnung muss zuvorkommend sein! Das heißt: Nur in einem „Klima“ der Versöhnung wird die offene Aufarbeitung von Unrecht möglich.

Aber heißt dies nicht, dass die Täter geschont werden?

In gewisser Weise ja. Erst die Zusage einer bestimmten Versöhnungsbereitschaft befähigt oftmals Täter, sich ihren verbrecherischen Taten zu stellen. Interessant ist auch, dass sich Repräsentanten von Institutionen gedrängt fühlen, die Bitte um Vergebung zu äußern, obwohl sie ja selbst als Individuen mit den Verbrechen gar nichts zu tun hatten – etwa die Vorstände großer deutscher Firmen, die sich für NS-Verbrechen entschuldigen.

Ist das mehr als gute Publicity für die Firma?

Vielleicht erfüllen sie diesen Zweck. Dennoch gilt: So wird ein Klima geschaffen, in dem Täter und Opfer leichter aufeinander zugehen können.

Kann verzeihen auch „gefährlich“ sein?

Wer um Verzeihung gebeten wird, ist der Überlegene. Diese Asymmetrie ist, psychologisch gesehen, nur dann erträglich, wenn er sich dessen bewusst bleibt und zum Ausdruck bringt, dass er selbst kein „besserer Mensch“ ist. Der große Gestus „ich verzeihe dir“ kann unerträglich sein und die Fronten sogar verhärten. Verzeihung kommt am besten indirekt zum Ausdruck. Deshalb umgehen Schädiger und Opfer oft eine Versprachlichung des Verzeihens. Durch Symbole oder durch Gesten der Zuwendung.

Gibt es auch Unverzeihliches? Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch meinte, den Deutschen dürfe man nicht verzeihen, weil sie den Holocaust nie bereut hätten. Hat er Recht?

Jankélévitch hat auch ein eindrückliches Buch über „Le Pardon“ veröffentlicht! Aber: Das Verzeihen kennt keine Regeln und schon gar nicht gibt es eine Pflicht zu verzeihen. Denn das Verzeihen ist strikt außer-gewöhnlich. Und deshalb ist es auch das Recht eines Opfers, auf der Unverzeihlichkeit zu bestehen. Und dieses Recht auf das Ressentiment nimmt Jankélévitch im Hass auf die Deutschen in Anspruch. Er bezeichnet die Täter als Bestien und Hunde. Es ist eine prinzipielle Voraussetzung für das Verzeihen, dass ein Opfer seinen Schädiger immer noch als Menschen wie seinesgleichen ansieht. Sonst ist Verzeihung unmöglich.

Für den Philosophen Derrida ist erst das Vergeben des Unverzeihlichen Verzeihung im eigentlichen Sinn.

Er mutet uns dieses Paradox zu. Für Derrida wächst der Mensch hier wirklich über sich selbst hinaus – in einer fast übermenschlichen Anstrengung. Emphatisch ausgedrückt: Im Akt des Verzeihens wird in einem verschwindenden Augenblick die göttliche Natur des Menschen sichtbar. Das bleibt nicht folgenlos, weder in der Geschichte des Einzelnen, noch in der Weltgeschichte. Und doch werden solche Aufbrüche bald wieder zugedeckt durch die Mittelmäßigkeit des gesellschaftlich-politischen Betriebes und der in ihm gängigen Funktionalisierung der Moral. Anders kann das indessen auch nicht sein. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ