: „Der Ort ist eine Hauptfigur“
Von Bewohnern und Passanten: Hans-Christian Schmids Episodenfilm „Lichter“ bewegt sich diesseits und jenseits der deutsch-polnischen Grenze. Ein Gespräch mit dem Regisseur über die Handkamera und das Gefühl, einer Wirklichkeit zuzusehen
Interview MANFRED HERMES
taz: Herr Schmid, für „Lichter“ sind sie an die östliche Grenze der EU gegangen, die ja nicht weit von Berlin entfernt ist. Warum haben Sie sich mit der Migrationsproblematik befasst?
Hans-Christian Schmid: Ich hatte ein Interesse, mich mit dieser Situation zu beschäftigen. Es gab einen politischen Ansatz, dass sich die EU gegen Flüchtlinge abschottet, und zugleich die Überlegung, wo und wie man das in einem Film zeigen könnte. Das hat als Idee für die Dokumentarfilmreihe „Denk ich an Deutschland“ angefangen, da sollte es um die Flüchtlinge im Frankfurter Flughafen gehen. Es stellte sich aber heraus, dass es besser wäre, sie dort nicht zu filmen, weil sonst für die Leute eine Gefahr bestehen würde.
Ein dankbares Thema: diese geheimen, exterritorialen Räume, diese rechtlichen Sonderzonen.
Eine unglaubliche Situation. Konkret war es aber eine Meldung in der Süddeutschen Zeitung über eine pakistanische Flüchtlingsgruppe. Das war der erste Anlass und der Stoff für die ersten zwanzig Minuten im Film. Da ist ein Lkw, der Schlepper sagt: „Die Lichter da, das ist London.“ Und so klopfen die Flüchtlinge an die Tür und fragen: „Erwartet man uns hier? Wir sind die Gruppe aus Pakistan.“
Bei näherer Betrachtung beschreibt ihr Film eine Landschaft, die beiden Seiten der Oder.
Der Ort ist sicher eine Hauptfigur. Wir fanden die Landschaft von Anfang an unglaublich. Wenn es so etwas wie filmische und unfilmische Ort gibt, dann war dies sicher ein filmischer. Und dann dieses ganz andere Leben in Słubice – fast südländisch, dieses katholische Boomtown-Geschehen mit den bunten Fassaden. Und auf der anderen Seite, in Frankfurt, die grauen Plattenbauten und leerstehenden Läden.
„Lichter“ ist für einen deutschen Film erstaunlich realistisch, wozu die gute Besetzung der Rollen ebenso beiträgt wie die Handkamera.
Sobald man sich für die Handkamera entscheidet, kommt eins zum anderen. Letztlich war das schon im Buch angelegt, dass es sehr viele Sprünge geben würde – im Grunde arbeitet man gegen das Verschmelzen von Zeit, gegen das, was der Schnitt normalerweise versucht: Er glättet die Zeit. Das wollte ich auch vorher schon versuchen, aber das hat sich vom Thema her nicht angeboten, oder es gab Widerstände des Kameramanns. In „Lichter“ konnte ich mit Schauspielern arbeiten, wie ich es zuvor nicht konnte, indem ich bestimmte Szenen drei oder vier Minuten am Stück durchgedreht habe. Mir und den Schauspielern hat das sehr geholfen.
Erlaubt diese Kamera auch das Kaschieren von Mängeln?
Wenn mich etwas interessiert an der Filmarbeit, dann ist es, zusammen mit Schauspielern zu besonderen, möglichst wahrhaftigen Momenten zu gelangen. Ich schaue sehr genau, ob ich den Leuten auf der Leinwand glaube, was sie sagen. Bei Dreharbeiten nimmt die Technik oft sehr viel Raum ein: Man leuchtet ein Set ein, muss nach jeder Einstellung eine Pause machen, um das Licht umzubauen, legt Schienen für die Kamera, klebt Lassoband auf den Boden, damit die Schauspieler ja keinen Schritt zu weit gehen. Denn wenn sie sich zwei Zentimeter zu weit drehen, fällt ein unschöner Schlagschatten auf die Nase. Bei „Lichter“ haben wir auf all das wenig Wert gelegt. Ich habe versucht, mir die Zeit, die mir die Techik wegnimmt, wiederzuholen – für das, was mir am wichtigsten ist: die Arbeit mit den Schauspielern.
Es ist aber auch ein Stil, der Nähe zu den Figuren geradezu erzwingt. Schwer zu sagen, wo Abbildung aufhört und Behauptung beginnt.
Problematisch würde es für mich, wenn ich den Kameramann bitten würde, mit Absicht zu verwackeln. Er sollte versuchen, den Dingen so gut wie möglich zu folgen. Man kann aber auch überrascht werden. Das würde nicht passieren, wenn ich vorher im Hinterkopf alles festgelegt hätte. Das ist auch ein Kampf. Man muss einem Kameramann sagen: „Ich lege keinen Wert darauf, dass es immer schön ausgeleuchtet ist.“ Es hat Auswirkungen auf die Ausstattung, die Maske und so weiter.
Die Handkamera wirkt subjektiv, ohne es doch zu sein. Durch das Hastige, den Schnittrhythmus und auch durch diesen Shutter-Effekt im Bild ergibt sich eine Art Koksblick.
Durch Schließen der Sektorenblende kann man Bewegungsunschärfen vermeiden, und das Ganze sieht härter aus. Aber Koksblick? Ich weiß nicht. Mein Ansatz war: Lass uns das versuchen. Auch wenn es ein Manierismus sein mag, es ist ja letztlich für den Film gemacht.
Ich sehe das auch vor dem Hintergrund, dass in einer Dramaturgie der getrennten Figurengruppen etwas Menschliches behauptet wird, das die Geschichte eigentlich gar nicht verfolgt, weil sie nur die kleinen Ausschnitte als Antrieb hat.
Das verstehe ich nicht ganz. Man gaukelt eine Nähe vor, die es nicht gibt?
Im Prinzip ja. Durch die Short-Cuts-Technik entsteht eine Vielheit, der Eindruck eines vollständigen Gesellschaftsbildes.
Was ja auch gut sein kann, oder? Ich weiß nicht, was sich geändert hätte, wenn ich einen Film über eine Figur gemacht hätte. Episodisch zu erzählen hieß für mich hier, dass ich den Figuren so nah wie möglich komme, obwohl ich für jeden nur fünf oder zehn Minuten Erzählzeit habe. Das wird immer Ziel bleiben, den Figuren nahe zu kommen, die Menschen zu begreifen, als Autor in deren Kopf zu kommen und entscheiden zu können, wie die sich in bestimmten Situationen verhalten. In „Lichter“ unterstützt die Kamera diesen Ansatz und damit das Gefühl, einer Wirklichkeit zuzusehen.
Es gibt einerseits diesen Hang zum Naturalismus, dann gibt es aber auch Drehbuchentscheidungen: zum Beispiel, dass die Übersetzerin Kolja nach dessen fehlgeschlagener Einreise doch noch über die Grenze helfen muss. Oder am Schluss, wenn eines der Motive für Koljas Wanderung ein Foto ist, das er auf dem Potsdamer Platz für seinen Bruder machen will. Der war als Arbeiter am Bau beteiligt, hat das Endergebnis aber nicht gesehen.
Das ist eine Klammer. Das kommt vielleicht aus den Drehbuchschulen, wo gelehrt wird: Die Hauptfigur muss einen starken Wunsch haben. Man denkt sich eine Geschichte aus, man überlegt, wie der Gutmenschenansatz von Sonja wieder gebrochen werden kann. Und dann kommt man zu einer Lösung wie der, dass Kolja ihre Kamera stiehlt; er steht sich selbst am nächsten in einer Welt, in der jeder auf sich selbst gestellt ist. Es ist aber auch eine Stilfrage, ob man noch mehr Offenheit möchte. Da bin ich dann doch jemand, der Geschichten gerne auch konstruiert. In den Filmen, die man schätzt, sind es ja oft Drehbuchbehauptungen, die Wahrscheinlichkeit und Spannung produzieren.
Ich habe die reine Hilfsbereitschaft dieser Frauenfigur im Grunde nicht verstanden. Es scheint da ein sexuelles Motiv zu geben.
Echt? Wir haben uns im Vorfeld mit Dolmetscherinnen unterhalten. Sie sagen, dass sie abends aus der Vernehmung gehen und zu heulen anfangen. Das ist ein Job, der zu solchen Reaktionen verleiten kann. Ich kann nachvollziehen, wie sie sich verhalten hat. Sonja ist die Figur, mit der ich mich am stärksten identifizieren kann. Das Gefühl, man müsste doch mehr helfen, dieses Gefühl: Wahnsinn, irgendwie lebt man hier doch sehr bequem. Und den wenigsten gelingt es, ein Zeichen zu setzen – selbst wenn es misslingt. Zu Sonja kann ich noch sagen: Es gab eine weitere Szene am Anfang, die wir dann weggelassen haben. Episodenfilme zu schreiben, ist eben auch eine gute Übung, um festzustellen, wie spät man in eine Geschichte einsteigen kann.
Beeindruckend ist die Geschichte über das Matratzengeschäft. Es wird versucht, ein Bild von Arbeit zu finden und über Arbeitsverhältnisse zu sprechen. Darüber, was „Minijob“ heißen kann: totale Abhängigkeit und Erniedrigung ertragen, nicht mal das bisschen Geld für seine Arbeit bekommen. Dann wird das wieder abgeschwächt. Es bleibt stecken.
Inwiefern?
Es werden harte ökonomische Verhältnisse gezeigt, doch deren Konsequenzen werden privatisiert. Aus dem Arschloch wird eine positive Gestalt, wenn man sieht, dass der Mann auch nur in wirtschaftlichen Zwängen steckt.
Das ist doch schön, wenn der, der als Arschloch erscheint, es dann nicht mehr ist. Das war der Versuch, Täter und Opfer in einer Person zu schildern. Ich habe das eher als Beziehungsgeschichte gesehen, in der von außen eine Lösung angeregt wird. Dass der Mann überhaupt wahrnimmt, dass es eine Lösung gibt. Was ja Raum für Hoffnung lässt.
„Lichter“, Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Ivan Shvedoff, AnnaJanowskaja, Sergej Frolov u. a.,Deutschland 2002, 105 Min.