Das Wunder von Lissabon

Das Unbehagen am deutschen WM-Sieg 1954 ist Vergangenheit. Heute blickt man nostalgisch zurück auf einen deutschen Kampffußball, der längst an sein Ende gekommen ist. Dabei wiederholt sich das Wunder von Bern aktuell bei der EM: Fußball stiftet gefühlte Identität – auch eine europäische

„Herr Herberger, ich habe das Pensum, das Sie vorgeschrieben haben, heute zweimal erledigt und fühle mich in der Form, die Sie wünschen. Mit Sportlichem Gruß. Ihr Max Morlock“. So war es damals: der Spieler tugendhaft, der Trainer, wie Kanzler Adenauer, eine unangefochtene Autoritätsperson, der Wille zu siegen eisern. Unvorstellbar, dass Fußballer ihren Dienst in der Nationalelf quittieren. Das wäre damals wohl als Vaterlandsverrat betrachtet worden.

Heute schauen viele wehmütig auf den 4. Juli 1954 zurück. Das ist eher neu. Die bisherigen Jubiläen wurden nebenbei begangen. Lange herrschte eine linke, kritische Lesart des 4. Juli 1954 vor, die Rainer Werner Fassbindern in der Schlussszene der „Ehe der Maria Braun“ auf den Punkt brachte. Zu der berühmten Radioreportage von Herbert Zimmermann („Aus Aus. Aus. Deutschland ist Weltmeister“) explodiert das Haus der Heldin. Der Sieg in Bern besiegelt die Restauration alter Machtverhältnisse, in der selbstständige Frauen keinen Platz mehr hatten. Diese Deutung ist selbst schon Geschichte geworden, ein Dokument des linken Unbehagens in der bundesdeutschen Kultur, das mit der alten Bundesrepublik verschwunden ist.

Der nostalgietrübe Blick zurück 2004 gilt einer Zeit, als die Republik noch hungrig nach Anerkennung war, als man Arbeitslosigkeit und Pisa-Studie noch nicht kannte und, ach, die Zukunft noch vor sich hatte. Heute geht es mit Fußball, Wachstum, Wirtschaft bergab, damals ging es bergauf. Diese metaphorische Aufladung ist von geradezu qualvoller Plattheit. Es ist die Sehnsucht der Satten nach der Zeit, als man noch hungrig war, die Sehnsucht, aus der verwirrend komplexen Gegenwart aus- und in eine Welt in Schwarzweiß einzusteigen. Das ist oft nackter Kitsch – bestenfalls klebrig, im übleren Fall eine stockkonservative Deutung, die sich das Wunder von Bern als Zeitzeichen vor dem Sündenfall der Emanzipationsbewegung erträumt und 1954 als Konkurrenzdatum zu „1968“ verstehen will.

Was bei derartigen Aufladungen gerne vergessen wird, ist, dass 1954 auch eine Erzählung begann, die den deutschen Fußball bis heute lähmt: der Mythos der deutschen Tugenden. Der Kicker wurde so zum Verwandten des Soldaten, der mit Kampf, Kraft und Disziplin den technisch überlegenen Sieger niederringt. Auch wenn Herbergers Spiel 1954 faktisch besser und moderner war – in Wankdorf wurde das Modell für den deutschen Kampffußball entworfen, der heute an sein Ende gekommen ist. Denn im globalisierten Fußballbusiness gleichen sich nicht nur die Spielsysteme an, auch konditionell gibt es keinen großen Unterschied mehr zwischen Letten und Deutschen. Mit deutschen Tugenden ist nichts mehr zu gewinnen. Weil die anderen auch kämpfen können, müssen die Deutschen wohl oder übel spielen lernen.

Was sagt uns der 4. Juli 1954 heute, jenseits der stickigen Retro-Sehnsucht nach einer Zeit, als Arbeiterschweiß noch Erfolge garantierte? Wenn wir der Deutung des Historikers Arthur Heinrich (s. Interview) folgen, ging es damals in erster Linie um eine zivile Identitätsstiftung, die half, das Vakuum zu füllen, das die Nazi-Katastrophe hinterlassen hatte. Vielleicht hilft es, diese Deutung mit der Europameisterschaft in Portugal zu vergleichen.

Wohl noch keine EM hat so wie diese ein europäisches Bewusstsein zum Ausdruck gebracht – und gestiftet. Noch nie haben sich so viele Europäer so viele Spiele anderer Nationalmannschaften angeschaut. Das liegt an der Internationalsierung des Fußballgeschäftes: Man kennt europaweit zahlreiche ausländische Spieler aus der eigenen nationalen Liga. Die französische Elf spielt in England, die tschechische teils in Deutschland etc. Das Postnationale zeigt sich auch an Trainern wie Otto Rehhagel, der mit den Griechen so etwas wie eine Art Reinszenierung des Wunders von Bern vollbracht hat und einen Favoriten nach dem andern entzaubert hat.

Die EM zeigt auch, dass sich die kulturpessimistische Prognose nicht bewahrheitet hat: Die Nationalmannschaften haben die Multikulti-Allstarteams Real, Manu und Milano und die Kommerzialiserung und Internationalisierung des Vereinsfußballs in den 90ern überlebt. Kurzum: Viele sitzen bei dieser EM erstmals doppelt vor dem TV-Schirm – als Deutscher (traurig wegen Lettland) und als EU-Bürger (glücklich wegen vieler guter Spiele). So mag die EM für das gefühlte Europa wichtiger sein als die Verabschiedung der EU-Verfassung – so wie der 4. Juli 1954 für die gefühlte Bundesrepublik wichtiger war als manche Regierungserklärung. Vielleicht ist das eine Botschaft von 1954: dass Identitäten, die anderswo misslingen, im Fußball symbolisch glücken. STEFAN REINECKE