: Neue Bekenntnisse zu Jah
Reggae ist heute wieder überraschend populär. Mit „Bass Culture“ des britischen Musikjournalisten Lloyd Bradley ist nun endlich ein Standardwerk über das Genre ins Deutsche übersetzt worden
von ANDREAS HARTMANN
Mit dem Erfolg einheimischer Reggae-Acts wie Patrice, Gentleman oder Seeed ist hierzulande das Interesse an Musik und Kultur Jamaikas enorm gestiegen. Doch wer Näheres zum Thema nachlesen wollte, musste bisher mit englischen Standardwerken vorlieb nehmen: „Reggae – The Rough Guide“ für den Plattensammler, Dick Hebdidges „Cut ’n’ Mix“ für den Cultural-Studies-Studenten oder, zur Einführung, „Reggae Bloodlines“ von Stephen Davis und Peter Simon.
Mit der Übersetzung von Lloyd Bradleys Reggaehistorie „Bass Culture“ wird nun zumindest ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. Einmal mehr wird in „Bass Culture“ klargestellt, wie die gesamte heutige DJ-Culture von Köln bis Brooklyn samt ihren Regeln und Codes ihren Ursprung in den Soundsystems Jamaikas hat. Lloyd Bradley, ein englischer Musikjournalist, gibt sich denn auch kaum Mühe, die eigene Faszination für Reggae und dessen „Siegeszug“, wie es im Untertitel heißt, zu verbergen. Er ist Fan und damit ein absolut subjektiver Reggaehistoriker – und er steht dazu. Seine Begeisterung wirkt für den Leser oft ansteckend; teilweise sind die ausführlichen Schilderungen, die seitenlangen Interviews und Nennungen irgendwelcher Reggaeplatten, von denen der Laie noch nie etwas gehört haben wird, aber auch arg ermüdend.
Gleich zu Beginn wartet Bradley mit den spannendsten Geschichten auf: über die Entstehung der Reggaekultur und die Kämpfe der großen Soundsystems im Jamaika der Fünfzigerjahre. Es herrschte regelrecht Krieg damals. Kleine, schwarze Vinylsingles dienten dabei als Waffe, doch selbst vor handfester Sabotage am gegnerischen Soundsystem wurde nicht zurückgeschreckt. Ausgehend von diesen wilden Tagen, schreibt Bradley seine Story chronologisch fort: Wie die R&B-Singles aus den USA irgendwann die Nachfrage nicht mehr decken können und langsam damit begonnen wird, etwas Eigenständiges zu produzieren. 1958 erscheint mit „Little Sheila“ von Laurel Aitken die erste Ska-Single, und auf Ska mit seinen zackigen Rhythmen und der Vorliebe für Blechbläser folgte im Sommer 1966 der etwas gemäßigtere Rocksteady. Ende der Sechzigerjahre dominiert dann endlich Reggae die Insel.
Während Bradley die Entwicklung der Musik beschreibt, rekurriert er immer wieder auf die soziale Lage des Inselstaats, erklärt den religiösen Kult um Haile Selassie I., der von den Rastafaris wie ein Gott verehrt wird, und zeigt die enge Verflechtung von Reggae, Rastabewegung und der politischen Situation auf Jamaika. Denn die weltweite Verbreitung des Reggae geht nicht zuletzt darauf zurück, dass sich auf Jamaika zwar bald eine blühende Musikindustrie entwickelte, der Inselstaat aber ansonsten wirtschaftlich nicht viel Zukunft versprach. Vor allem nach England wanderten deshalb immer mehr Jamaikaner aus, wo die Musik der Immigranten immer mehr Einfluss auf die dortige popkulturelle Entwicklung nahm.
Damit war die Globalisierung des Reggae eingeleitet, und mit Bob Marley konnte das Genre sogar eine weltberühmte Ikone hervorbringen. Sein Erfolg machte Reggae zwar weltweit populär, stellte aber andere Heroen und Entwicklungslinien in den Schatten: eine Verzerrung, gegen die Bradley anschreibt, der er andererseits aber auch erliegt.
Denn mit Marleys Tod am 11. Mai 1981 geht auch für ihn die goldene Ära des Roots-Reggae, des echten, wahren und spirituellen, zu Ende. Für Bradley regiert nun nur noch der unethische, Gewalt verherrlichende, homophobe und sexistische Dancehall-Stil, über den er kaum ein gutes Wort zu verlieren weiß. Die Zeit der gesungenen Bekenntnisse zu Jah, dem Gott der Rastafaris, ist vorbei und wird durch die aggressiven Texte rappender Dancehall-MCs abgelöst. Am Ende von „Bass Culture“ herrscht deswegen fast nur noch Schwanengesang.
Dabei stand, wie Bradley selbst beschreibt, ja schon am Anfang von Reggae nicht bloß das friedliche und bekiffte Miteinander, auf das Reggae so gern reduziert wird, sondern eben auch Gewalt und erbitterte Rivalität. Insofern ist der harte Dancehall-Sound von heute keine Pervertierung des Genres, wie es Bradley sieht, sondern eher eine logische Entwicklung.
In seiner Trauer übersieht er auch, dass es mit Reggae sehr wohl weiterging, vor allem außerhalb der Insel. Das britische Label On-U-Sounds läutete, daran erinnern Steve Barrow und Peter Dalton in „Reggae – The Rough Guide“, in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre gar ein Roots-Revival ein, und ein Dub-Produzent wie Mad Professor knüpfte durch seine Bearbeitung des Massive-Attack-Albums „Protection“ Mitte der Neunziger die Bande zwischen der englischen Dance- und Reggaeszene. Bezeichnenderweise aber finden weder On-U-Sound noch der Name Mad Professor eine Erwähnung in „Bass Culture“.
Auch, wie Dancehall- und Dub-Reggae in den Neunzigerjahren von Jungle- und Technoproduzenten angeeignet wurde, dieser Aspekt scheint Bradley völlig verschlossen geblieben zu sein. „Bass Culture“ verhandelt Reggae wie eine abgeschlossene Geschichte, dabei ist diese Musik lebendig wie selten zuvor. „Bass Culture“ ist unbedingt lesbar. Aber es verlangt auch unbedingt nach einer Ergänzung.
Lloyd Bradley: „Bass Culture“. Hannibal Verlag 2003, 485 S., 29,90 €