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Archiv-Artikel

Jobkrise trotz Wachstumswunder

In den USA werden zurzeit Millionen Stellen neu geschaffen – allerdings weniger, als gleichzeitig wegrationalisiert oderins Ausland verlagert werden. Zuwachs bei hoch qualifizierter Arbeit. Löhne wachsen langsamer als gesamte Wirtschaft

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Die US-Wirtschaft wächst in einem Tempo, von dem europäische Länder und Deutschland nur träumen können. Auch der Arbeitsmarkt hat an Schwung gewonnen. Mehr als eine Million neue Jobs sind in diesem Jahr geschaffen worden, auch wenn sich der Zuwachs im vergangenen Monat verlangsamt hat und deutlich unter den Erwartungen von Ökonomen blieb.

Die Frage, ob sich ein neues Jobwunder wie in den 90er-Jahren anbahnt, birgt politischen Sprengstoff im laufenden Wahlkampf: Der Arbeitsmarkt gehört zu den entscheidenden Themen des Urnengangs im November. Präsident Bush verkauft den Job-Boom überwiegend als Erfolg seiner Steuer- und Wirtschaftspolitik inklusive massiver Abgabensenkung und weiterer Deregulierung. Sein Herausforderer John Kerry hingegen wirft ihm vor, mit seinen Steuergeschenken für Reiche die Existenz vieler Mittelschichtsfamilien zu gefährden. Zudem entstünden durch das aktuelle Wirtschaftswachstum vor allem Billigjobs.

Viele Arbeitsmarktexperten stützen Kerrys These und stellen in den USA seit 2001 einen Trend fest zu schlechter bezahlten und weniger sicheren Arbeitsplätzen, zu erzwungener Selbstständigkeit und mehr Teilzeitstellen. „Der Löwenanteil der Jobs, die während der – mit Stellenabbau erkauften – wirtschaftlichen Erholung verschwunden sind, waren Qualitätsjobs“, sagt Benjamin Tal, Chefvolkswirt der Investmentbank CIBC. Zwar gebe es Branchen im Service- und Baubereich, wo die Zahl der Arbeitsplätze unter dem Strich zugenommen habe, doch seien die Löhne hier um 30 Prozent niedriger als in jenen Branchen, die Stellen verloren hätten.

Auch Stephen Roach von Morgan Stanley verweist auf das im Vergleich zur Konjunktur langsame Wachstum der Gehälter. Die Reallöhne seien im vergangenen Jahr lediglich um 0,9 Prozent gestiegen. Verglichen mit Zuwachsraten früherer Aufschwungphasen liege die Gesamtsumme der Löhne in den USA inflationsbereinigt um 280 Milliarden Dollar zu niedrig. „Dieser riesige Fehlbetrag beim wichtigsten Teil der persönlichen Einkommen ist ein gravierendes Manko der wirtschaftlichen Erholung.“

Die Arbeitsmarktstatistik zeigt jedoch auf der anderen Seite einen beträchtlichen Zuwachs an hoch qualifizierten Stellen. „Für Leute mit College- und Universitätsabschlüssen bietet sich momentan ein expandierender Arbeitsmarkt, für geringer Ausgebildete ein schrumpfender Markt“, sagt Frank Levy, Wirtschaftsprofessor am „Massachusetts Institute for Technology“ (MIT). Dem enormen Jobverlust im produzierenden Gewerbe, in der Landwirtschaft und bei Bürodiensten mit 3 Millionen Arbeitslosen stehen im gleichen Zeitraum 1,9 Millionen neue Stellen in höher qualifizierten Berufen gegenüber, so in den Bereichen Management, Ingenieurwesen, Rechts- und Finanzdienstleistungen.

Von dieser positiven Entwicklung profitieren Arbeiter und Angestellte jedoch kaum. Durch die Erosion von Jobs mittlerer Einkommen, sei es durch Verlagerung in Billiglohnländer oder Rationalisierung, sieht sich ein entlassener Automechaniker mit bislang ausreichendem Einkommen und betrieblicher Sozialversicherung nun gezwungen, bei Wal Mart für weniger Geld und ohne Versicherung zu arbeiten. Langfristig könne diesem Trend nur mit verstärkten Bildungsanstrengungen begegnet werden, so Levy. Mittelfristig empfiehlt er, das soziale Netz, finanziert aus Steuergeldern, festzuzurren, um diesen Beschäftigungsumbruch abzufedern – ein Vorschlag, der bei der Bush-Regierung auf taube Ohren stoßen dürfte.