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Archiv-Artikel

Wenn die Eltern ihre Kinder aufs falsche Pferd setzen

Bislang bestimmten Papa und Mama, in welche Schule Sachsen-Anhalts Kinder gehen. Künftig wird der Weg ins Gymnasium von Lehrern und Noten abhängig gemacht

Sachsen-Anhalts CDU-Regierung ist schulpolitisch auf dem Rückzug. Sie wird den Zugang zu höherer Bildung erschweren. Ab dem Schuljahr 2005 werden Viertklässler nur noch auf Empfehlung der Grundschullehrer oder mit bestandener Aufnahmeprüfung am Gymnasium akzeptiert. Bisher hatten die Eltern das letzte Wort. Sachsen-Anhalt tritt damit dem Club von unionsgeführten Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg oder Sachsen und Thüringen bei, wo ähnliche Regelungen gelten.

Für den sachsen-anhaltischen Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz ist klar, warum die neue Regelung hermuss. Es habe einen derartigen Run auf die Gymnasien gegeben, dass die Qualität des Unterrichts gelitten habe. „In manchen Landkreisen gingen drei Viertel eines Altersjahrgangs aufs Gymnasium. Damit konnten die nicht mehr umgehen. Viele Kinder waren überfordert“, sagte Olbertz zur taz.

Überfordert waren aber offenbar nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer. „Wir haben auf Druck der Lehrer Zugangsbeschränkungen gefordert“, erzählt der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Mario Arlt. Die Jugendlichen setzten auf das falsche Pferd – das ihrer Eltern. „Zum Schluss kommen halb gebrochene Schüler von den Gymnasien auf die Sekundarschule zurück. Und die Lehrer müssen sehen, wie sie damit zurechtkommen“, verteidigt Arlt seine Kollegen.

Haupt- und Realschüler besuchen in Sachsen-Anhalt einen eigenen Schultyp, die Sekundarschule. „Diese Schule zu stärken, wäre natürlich die bessere Alternative gewesen“, räumt Arlt ein. Denn die Sekundarschulen verödeten allmählich. Die gymnasiale Konkurrenz ist daran nur zum Teil schuld. Hauptsächlich führen Abwanderung und Geburtenknick zu einem drastischen Rückgang der Schülerzahlen. Die Hälfte der Sekundarschulen und jedes dritte Gymnasium sollen in den nächsten fünf Jahren dichtgemacht werden. In rund 550 Schulen wurden die Pforten bereits geschlossen.

Eine andere Sicht auf die Dinge hat Klaus Winter. Bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit im Land sei es nur rational, dass man seinen Kindern bestmögliche Voraussetzungen schaffen wolle, sagt der Rektor des Gymnasiums im anhaltischen Aschersleben. Ein Viertel der Schüler Sachsen-Anhalts schließt gegenwärtig mit dem Abitur ab – ein Widerspruch zu Olbertz’ angeblicher Gymnasiastenschwemme.

Das sachsen-anhaltische Auslesesystem ist der deutsche Normalfall. Nur rund ein Drittel haben Zugang zum Gymnasium. Die Schulstudie Pisa machte nicht nur deutlich, dass dies im internationalen Vergleich ein sehr geringer Wert ist. Die Studie stellte nach Meinung vieler Experten das strenge deutsche Auslesesystem grundsätzlich in Frage. Deutsche Oberschüler, die eigentlich eine erstklassige Gruppe bilden sollten, schnitten schlecht ab. Die Gymnasial-Eleven erreichen zwar die Lesekompetenzen anderer Länder – aber es sind viel weniger als dort. Obwohl es eine eigene homogene Eliteaufzucht namens Gymnasium dort gar nicht gibt.

Gundel Schümer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kann die Skepsis gegen heterogene Schulgruppen nicht verstehen. „In gemischten Gruppen sind die Nachteile für die guten längst nicht so gravierend wie die Vorteile für die schlechten Schüler“, erklärt Schümer. Weniger Begabte seien durch ein heterogenes Umfeld motivierter und leistungsfähiger.

Obwohl der Schock über die Pisa-Ergebnisse tief sitzt, scheint diese Erkenntnis sich nur mühsam Bahn zu brechen. „Es gibt in Deutschland die Tendenz, auf den guten Schüler zu warten – anstatt die vermeintlich schlechten Schüler früh zu fördern“, ärgert sich die Pisa-Forscherin.

Eine These, die der Ascherslebener Lehrer Winter aus seiner Erfahrung bestätigen kann: „Ein Großteil der Gymnasiallehrer wird Zugangsbeschränkungen begrüßen und denken, dann kommen nur noch die guten Schüler“, meint er. Er selbst steht der rigorosen Auslese mit zehn Jahren skeptisch gegenüber: „Ich möchte es nicht wagen, über eine Zehnjährigen zu urteilen: ‚Das ist kein Abiturient.‘ Ich könnte das nicht mal für einen Schüler der 9. Klasse.“

ANNA LEHMANN