: Genießen Sie die Ruhe!
Leben und Sterben in der Parallelwelt Provinzkrankenhaus: Ein Erfahrungsbericht von der „Hammerstation 5 a“ der Hessenklinik in Rüsselsheim. Wir wünschen allen Lesern gute Nerven bei der Lektüre. Und: Bleiben Sie gesund!
VON KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT
Hessenklinik, Rüsselsheim, im April 2004. Hammerstation 5 a. So jedenfalls nennen die ehrenamtlich tätigen Frauen vom sozialen Dienst des Krankenhauses den im Altbau befindlichen Trakt für tatsächliche oder vermeintliche Problemfälle; und für tatsächliche oder vermeintliche Diabetiker. Es wird fleißig gestorben auf 5 a. Beinahe in jeder Nacht. „Bitte keine Besuche“ steht dann am nächsten Morgen auf einem Schild an der Tür.
Es ist sechs Uhr früh an einem Donnerstag. Seit acht Tagen liege ich auf der Station: Verdacht auf Diabetes nach einer Stoffwechselentgleisung. Der schwer alkoholabhängige Patient auf Radikalentzug nebenan, der literweise Wasser trinken muss, um das Gift aus seinem Körper zu schwemmen, hastet über den Gang zur Toilette. Sie ist wieder einmal bis unter den Rand beschmiert mit dem Stuhl von Patienten, die in den frühen Morgenstunden dort ihre Windeln geöffnet haben. Das Desinfektionsspray hilft jetzt auch nicht mehr. Die zweite Toilette ist besetzt. In seiner Not uriniert der Alkoholiker ins Waschbecken. Kotspuren auch dort. Ein Patient versuchte, seine verschmutzte Windel auszuwaschen. Jetzt liegt er wieder in seinem Bett in einem Doppelzimmer und hört laut Blasmusik. Sein tätowierter Nachbar mit dem Ohrring flucht. Er will noch schlafen. Seine Darmspiegelung ist erst für 11 Uhr angesetzt. Aber der alte Mann hält sein dröhnendes Kofferradio fest umklammert. Die Schwestern kommen. Routine. Blutdruck und Temperatur messen, Zuckerspiegel prüfen. Es stinkt aus der geöffneten Tür. Und im Radio spielen sie die Liechtensteiner Polka.
An der Tür zum ersten Zimmer auf der Station hängt das verräterische Schild. Die greise Frau, die dort schon seit Tagen wie tot in ihrem Bett lag, ist in dieser Nacht gestorben. Jetzt ist die Tür zu: „Keine Besuche bitte.“ In den Tagen zuvor konnte sie noch jeder sehen; die Tür stand weit offen. Fürchterlich dünn war sie. In ihrem weißen Operationshemd sah sie aus wie ein Elfenwesen, durchsichtig fast. Sie starb einsam. Besuch hatte sie in den Tagen zuvor keinen.
Schräg gegenüber liegt ein alter Mann im würdelosen Sterben. Alle können auch ihm dabei zusehen: die Patienten auf der Station und die Besucher. Er ist so dünn wie die Elfenfrau. Eine Maschine besprüht sein Gesicht mit Sauerstoff. Der soll das Austrocknen verhindern. In der Nacht, noch ohne das Sprühgerät, kämpfte er um Luft und mit dem Tod. Ein Husten, hart und knapp wie das trockene Bellen eines Hundes, war aus seinem Zimmer zu hören. Und die offenbar geistig verwirrte Patientin in einem Gitterbett in einem Raum weiter hinten ruft dazu die ganze Nacht: „Hallo! Hallo!“ Am Anfang sind die Nachtschwestern noch gekommen. Jetzt nicht mehr.
„Bleiben Sie noch ein paar Tage bei uns und genießen Sie die Ruhe“, sagte Stationsärztin B. am Tag zuvor zu mir. Die junge Frau, die mit Patienten „nicht diskutiert“, ist offenbar Berufszynikerin. An Ruhe nämlich ist auf Station 5 a auch in einem Einzelzimmer nicht zu denken. Draußen vor der Fensterfront fahren in der Nacht wieder und wieder die Rettungsfahrzeuge die Notaufnahme an – krachend über Schottergestein! Und wenn es tatsächlich einmal ruhig ist, räumt die rührige Nachtschwester aus dem Osten pflichtbewusst gegen Mitternacht Flaschen und Gläser in den Materialschrank. Am Tag dann permanent das Gehämmer von Pressluftbohrern; nebenan entsteht ein Neubau.
Der Alkoholiker mit den schorfigen Beinen rennt schon wieder über den Gang zum WC. Das ist für die Patienten auf der Station, für Männer und Frauen und für alle Besucher. Jetzt hat er Glück. Eine von zwei Toiletten ist frei. Wer laufen kann und es nicht so eilig hat, sucht die dreißig Meter entfernte Toilette am anderen Ende der Station auf. Dort in den Zimmern liegen die Patienten, die auf die Bettpfanne müssen; die Toiletten sind also öfter einmal frei, wenigstens eine von zwei. Doch wehe, wenn – wie vier Tage zuvor – ein Patient auf dem anderen WC nach einem Einlauf alles viel zu lange Aufgestaute von sich lässt. Pestilenzartiger Gestank breitet sich in Sekundenschnelle aus; es gibt kein Entkommen. Der Ekel ist unermesslich groß. Die Galle läuft über. Das Riech- und Geschmacksvermögen ist stark beeinträchtigt – noch Tage danach. Die hygienischen Verhältnisse auf 5 a in der Hessenklinik spotten jeder Beschreibung. Die Schwestern sagen: „Schreiben Sie darüber! Vielleicht ändert sich ja was. Vielleicht.“
Dafür, dass ich kaum etwas essen will, haben sie Verständnis. Ein „Skandal“ sei das, was den Patienten serviert werde, sagen sie. Das Mittagessen: regelmäßig zermatscht. Nudeln lassen sich problemlos durch Zahnzwischenräume ziehen, Gemüse ist bis zur Unkenntlichkeit zerkocht. Und am Abend haben die Diätpatienten die Wahl zwischen zwei Scheiben Graubrot mit Schweinewurst oder mit Geflügelwurst und einer sauer eingelegten Gurke oder einer völlig geschmack- und farblosen Tomate – alles inklusive diverser Zusatzstoffe, vor denen Ernährungswissenschaftler draußen in der Welt seit Jahren warnen. Für jeden Menschen, der gutes Essen zu schätzen weiß, ist der tägliche Schlangenfraß hier in der Klinik die Hölle und ganz sicher kein Betrag zur Genesung.
Am Vormittag spreche ich die indische Putzfrau an, die pausenlos mit ihrem Reinigungswägelchen durch die Zimmer und Gänge zieht. „Schön wäre es, wenn Sie hier nach den Regeln der Mogulküche kochen würden und der Koch dafür die Latrinen putzen müsste“, sage ich. Sie lacht. Kochen könne sie gut. Aber da unten in der riesigen Küche lasse sie ganz bestimmt keiner ran. Sie fegt unter meinem Bett. Und sie lächelt noch immer.
Die jungen Ärztinnen auf der Station – die Klinik ist auch Lehrkrankenhaus für die Uniklinik in Mainz – tragen ihre Kompetenzstreitigkeiten auch schon einmal auf Kosten der Patienten aus, der eine entlässt, der andere widerruft, und dabei berufen sie sich wechselseitig auf die Diagnosen einer ominösen Oberärztin, die ich in den neun Tagen meines Aufenthalts auf der Station nicht ein einziges Mal zu sehen bekam. Es wird budgetiert in der Hessenklinik. Und kostenintensive Visiten von Oberärzten finden unter diesen Bedingungen offenbar nicht mehr statt: Entscheidung nach Aktenlage. Und was wird den Krankenkassen danach in Rechnung gestellt?
Fleißig gespart wird auch am Personal. Die viel zu wenigen Schwestern und Krankenpfleger setzen sich Tag für Tag und Nacht für Nacht beispiellos – und das bei schlechter Bezahlung – für die Patienten ein. Das gilt für alle, fast immer auch freundlichen Pflegekräfte auf Station 5 a. Und das ist aller Ehren wert.
Eingespart werden auch Reparaturkosten. In meinem Einzelzimmer etwa war die obere Schranktür wegen der ausgeleierten Scharniere mit Leukoplast zugeklebt. Und gespart wird ganz offensichtlich auch beim Einkauf der Lebensmittel für die Zubereitung der „Mahlzeiten“ ebenso wie Fachpersonal für die Küche. Kein gelernter Koch, der etwas auf seine Berufsehre hält, würde doch für dieses „Essen“ verantwortlich zeichnen. Wie zum Hohn für die Patienten kommt täglich eine „Menü-Beraterin“ im Outfit der Lufthansa-Servicegesellschaft in die Krankenzimmer, um die „Wünsche“ der Patienten für den nächsten Tag in einem Kleinstcomputer abzuspeichern. Man hat – wie immer – die Wahl: zwischen Pest und Cholera. Diesmal für den Abend zwischen einer Ecke Käse aus einer Kaumasse mit fremden Stoffen oder einer Scheibe Käse aus dem gleichen Material. „Danke, mir ist schon schlecht!“ Und ich will hier raus.
Gegen 12 Uhr dann die Visite. Diskutiert wird nicht. Ärztin B. ist einer meiner Blutzuckerwerte – von vielleicht dreißig normalen Messergebnissen in den letzten vier Tagen – noch immer „etwas zu hoch“. Ich müsse noch bleiben, sagt sie. Dabei hatte die Diabetesberaterin, eine in ganz Hessen bekannte und anerkannte Expertin, schon am Tag zuvor meine Entlassung befürwortet. Sollte ich noch dableiben (müssen), weil ich ein mit Zuschlag extra zu bezahlendes Einzelzimmer – eine Zusatzeinnahme für die Klinik – gebucht hatte? Nur eine Vermutung. Am Nachmittag gehe ich „auf eigene Verantwortung“. Krank durch fürchterliches Essen, permanenten Schlafentzug und unverantwortliche hygienische Zustände will ich nicht auch noch werden. Ich verabschiede mich von meinem Nachbarn im Nebenzimmer, dem Alkoholiker auf Entzug. Er hat es fast geschafft; er ist ein lieber Kerl und ein noch junger Mensch. Ich wünsche ihm Abstinenz sein Leben lang. Dann nichts wie raus hier aus diesem Krankenhaus.
Wieder zu Hause koche ich am Abend für mich und meine wunderbare Frau, ohne deren Beistand und Zuspruch ich aus dieser Parallelwelt wohl nicht so unbeschadet wieder herausgekommen wäre, ganz schlichte Spaghetti mit einer Sauce aus gehackten frischen Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch, mit Basilikum und frisch geriebenem Parmesan darauf – und beginne wieder zu leben.
Ich bin jetzt knapp drei Monate draußen. Meine Blutzuckerwerte sind wieder im grünen Bereich – ohne Insulin und ohne Tabletten. Meinen Hausarzt habe ich vorsorglich schon einmal instruiert: „Lieber Doktor R., sollte ich noch einmal schwer erkranken, was Gott und auch alle anderen höheren Mächte verhüten mögen, schicken Sie mich bitte nie wieder auf die Station 5 a im Stadtkrankenhaus von Rüsselsheim!“
Er hat es mir versprochen.