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Archiv-Artikel

Polizeiverhöre mit tödlichem Ausgang

In Russland werden Festgenommene auf Polizeistationen systematisch gefoltert und misshandelt. Oft sind Jugendliche, Obdachlose und Kaukasier betroffen. Kommen die Fälle überhaupt vor Gericht, können die Beamten auf Nachsicht hoffen

AUS MOSKAU ZITA AFFENTRANGER

Ihr Sohn sei betrunken in der Moskauer Metro aufgegriffen worden, auf dem Polizeirevier habe er sich unwohl gefühlt, sei vom Stuhl gefallen und tot gewesen, berichtete die Polizei Tamara Solozewa. Der Mutter wurde die Tasche des 26-Jährigen übergeben, in der sich zwei Packungen mit geschmolzenem Speiseeis befanden, die der junge Mann offenbar nichts Böses ahnend auf dem Heimweg für sie und seine Freundin gekauft hatte.

Doch Wiktors Leiche wurde vorerst nicht freigegeben. Dann erfuhr Solozewa, dass ein Polizist verhaftet worden war, weil man ihn verdächtigte, ihren Sohn bei einer „Befragung“ totgeschlagen zu haben.

Solches Grauen ist in Russland zwar nicht an der Tagesordnung, doch Misshandlungen und gar Folter von Verhafteten durch Polizisten sind nicht nur weit verbreitet, sondern – wie eine neue Studie belegt – systematisch. Fast ein Drittel aller Russinnen und Russen hat Gesetzlosigkeit und Willkür der Polizei schon am eigenen Leibe erfahren müssen. Laut den Daten, die das renommierte Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zenter in den zwölf größten Städten Russlands erhoben hat, trauen gerade einmal 10 Prozent der Bevölkerung der Polizei. 85 Prozent betrachten sie hingegen als korrupt und die Hälfte der Befragten ist überzeugt, dass die Gesetzeshüter enge Kontakte mit der Unterwelt pflegen.

Unter der Polizeigewalt leiden alle Bevölkerungsgruppen. Doch zu den beliebtesten Opfern gehören jene, die sich nur schlecht zur Wehr setzen können. 67 Prozent all jener, die betrunken bei der Miliz landen, werden dort misshandelt. Nicht viel besser ergeht es Jugendlichen: Hier liegt die Prügelquote bei 62 Prozent. Schlechte Karten haben auch Obdachlose und Einwanderer aus dem Kaukasus und Zentralasien, wie Tschetschenen oder Tadschiken. Von ihnen wird rund jeder Fünfte in Polizeigewahrsam misshandelt, das heißt geschlagen, erpresst oder beispielsweise mit Elektroschocks gequält.

Wurde die Gewalt früher vor allem angewandt, um irgendwelche Geständnisse zu erpressen, registrieren die Menschenrechtler heute immer mehr Fälle von Gewalt um der Gewalt willen. Manche Opfer berichten, sie seien zusammengeschlagen worden, noch bevor ihnen jemand erklärt habe, was ihnen vorgeworfen werde. 87 Prozent der Notfallärzte, die in Russlands größten Städten Dienst tun, mussten laut der Studie schon Verletzte in Polizeistationen behandeln.

Zur Verrohung der Polizei trägt laut Menschenrechtskreisen mit bei, dass fast jeder fünfte Polizist schon einmal in Afghanistan oder Tschetschenien Dienst getan hat, wo Gesetzlosigkeit und Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkerung an der Tagesordnung sind.

Die Polizeibehörden tun die schweren Vorwürfe als Propaganda von Menschenrechtsorganisationen ab. Doch auch der Ombudsmann für Menschenrechte, der Präsident Wladimir Putin verantwortlich ist, prangert die Missstände scharf an. Wladimir Lukin berichtet etwa von einem jungen Mann, der in der Region Petersburg unschuldig verhaftet wurde. Polizeibeamte ließen ihn unter einer Gasmaske fast ersticken, um ein Geständnis zu erpressen. Der Slonik, das Elefäntchen, wie die grausame Methode zynisch genannt wird, ist offenbar eine der beliebtesten Foltermethoden. Steht keine Gasmaske zur Verfügung, reicht den Polizisten auch ein simpler Plastiksack.

Die russische Bevölkerung wünscht sich seit dem Chaos der 90er-Jahre nichts sehnlicher als Recht und Ordnung. Präsident Wladimir Putin hat dieses Bedürfnis zum Programm gemacht und bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren versprochen, dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Doch die Polizeigewalt hat nicht abgenommen. Auch Lukin registriert eine klare Verschlechterung der Situation und spricht offen von Folter.

Menschenrechtler kritisieren, dass das alte, aus der Sowjetzeit stammende repressive System nicht geändert worden sei. „Es hat sich teilweise in Polizeiwillkür verwandelt“, erklärt Boris Dubin vom Lewada-Zenter. Die Situation hat sich in jüngerer Zeit noch dadurch verschärft, dass die Polizei immer mehr Kompetenzen und Aufgaben erhält. So ist die Miliz seit neuestem nun auch für die Ausgabe von Pässen zuständig.

Auch an der faktischen Straflosigkeit solcher Vergehen hat sich die letzten Jahre nichts geändert. Vieles wird vertuscht, Polizisten schlagen nach Möglichkeit so, dass kaum Verletzungen sichtbar sind. Falls es überhaupt zu einem Prozess kommt, können die Beamten mit der Milde der Staatsanwaltschaft rechnen. Auch wenn der Tod des 26-jährigen Wiktor nun untersucht wird, ist noch keineswegs sicher, dass seine Ermordung am Schluss nicht doch noch unter den Teppich gekehrt wird.