Die stille Freude am weiß-grauen Rieseln

Ab heute empfängt die normale TV-Zimmerantenne nichts mehr. Endgültig. Für zehntausende Berliner ist Fernsehen Vergangenheit. Sie haben keinen digitalen Decoder gekauft. Der Count-down lief seit Wochen. Ein Abschiedsgruß

Um 8 Uhr ist Schluss. Ohne Feuerwerk. Ohne grandioses Finale. Mit einem Stoßseufzer beginnt die TV-freie Zeit in mehreren zehntausend Berliner Haushalten, die weder Kabelanschluss noch Satellit noch Decoder besitzen. Wo bisher Nachrichtensprecherinnen, Tatorte, Talk-Show-Gurus, Wettkämpfe, Happyends und eine einseitige Zwiesprache stattgefunden haben, ist nichts mehr. Nur weiß-graues Rieseln.

Schätzungsweise 200.000 Haushalte, in denen die Programme noch analog empfangen wurden, sind von der Umstellung betroffen. Etwa 150.000 Decoder seien bisher verkauft worden, heißt es. Dennoch behaupten die Verfechter der Umstellung auf digitalen Empfang, dass am Ende nur in 20.000 Wohnungen in die graue Röhre geguckt wird.

Steckt Protest oder Ignoranz hinter der Entscheidung einer gewissen Anzahl Hauptstadtmenschen, das Fernsehzeitalter zu beenden? Oder ist es Resignation? Müdigkeit? Wozu zu Media Markt gehen, um sich ein neues Gerät zu kaufen, mit neuen Kabeln, mit einer neuen Betriebsanleitung? Der Werbetexter gibt die Lösung vor: „Ich bin doch nicht blöd.“

Abschiede lassen nicht gleichgültig. Winkend wird die letzte Sekunde genossen. „Und jetzt schalten wir um zu den Nachrichten“, lautet die Moderation der Morgenmagazinmacher. Danach kommt nichts mehr. Schade, dass die Umstellung nicht zwölf Stunden später stattfindet. Dann setzte die Frau mit der blauen Sonnenbrille vor der „Tagesschau“ den richtigen Schlussakkord. „Für meine Zukunft seh’ ich blau“, wird sie sagen. Blau, eine Farbe der Hoffnung.

Mehr als drei Programme waren seit Wochen nicht mehr zu empfangen. Zum Abschied wurden sie mit ihrem ganzen Mehrwert an Herzschmerz noch einmal genossen. Täglich gab es verfilmte Groschenromane. Immer nach gleichem Muster: Zuerst werden die Personen eingeführt, die eine Hoffnung haben. Dann kommt die Enttäuschung. Danach der tiefe Fall. Aber schon bahnt sich die Entwicklung zum Besseren an. Am Ende werden sich die Protagonisten in die Augen schauen und küssen. Super. Grandios. Herzergreifend.

Auf diese Weise war man dabei, wie eine Konditorin glücklich wurde. Und eine Frau, die schon vorgab, mit einem Mann verheiratet zu sein, es aber nicht war. Miterlebt werden konnte ebenfalls, dass eine bereits Verheiratete wieder zu ihrem Mann zurückfand und dass eine, die vorgab, gar nichts mehr von Männern wissen zu wollen, am Ende nicht umhin konnte, sich einem von ihnen zu ergeben.

Dazu gab es den Wetterbericht drei Tage im voraus: mit Sonne, mit Sonne, mit Sonne. Selbst der Bundesligastart sowie die Wiederholungen von „Matula“, dem „Tatort“ und den alten SFB-Talkshows mit längst Verstorbenen labten noch einmal das Herz. Nicht zuletzt musste angesichts der anbrechenden TV-Fastenzeit zudem ausführlich die Tour de France verfolgt werden. Jeden Tag war zu hören, dass die Franzosen den Ullrich mehr lieben als den Armstrong. So wird Außenpolitik gemacht. Grandioser Höhepunkt der Gnadenfrist im Öffentlich-Rechtlichen: Die Übertragung des Schürzenjäger-Konzerts zu deren 30. Jubiläum am vorletzten Abend des Count-down. „Weit und breit Fröhlichkeit, Schürzenjägerzeit ham ma heit“ singt die Band in das begeisterte bajuwarische Publikum hinein. Dann brüllt einer ins Mikrofon: „Und jetz sans ihr dran!“ Das sollte die TV-müden Berliner und Berlinerinnen noch mal richtig aufrütteln: Welch ein Irrsinn, auf die mediale Anleitung zum Glücklichsein in Zukunft zu verzichten!

WALTRAUD SCHWAB