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Archiv-Artikel

Im Lande von Schneewittchen

von HEIDE OESTREICH

Die EU ist ein unheimliches Gebilde, das unter anderem einen Haufen Original-70er-Jahre-Feministinnen beherbergt, eine Spezies, die andernorts längst ausgestorben ist. Die hecken tagein, tagaus bürokratische Monster an Gesetzen aus, die die Wirtschaft strangulieren und den Männern und Seite-eins-Mädchen der Bild-Zeitung das letzte bisschen Freude rauben. Das Seite-eins-Mädchen wollen sie verbieten. Mit einer Richtlinie, in der noch viel Schrecklicheres verborgen ist: Sie wollen unsere Versicherungen verteuern. Und die Friseurpreise auch. Ein Glück, dass spätestens unser Kanzler solchen Unsinn stoppen wird. Die Rede ist von einer EU-Richtlinie, die es noch gar nicht gibt. Bisher, so betont eine der angeblichen Urheberinnen, Barbara Helfferich aus dem Kabinett der EU-Kommissarin für Soziales, Anna Diamantopoulou, gebe es gerade mal Diskussionen auf der Fachebene. Nebenbei: Ein Verbot erotischer Bilder, falls man die Seite eins der Bild darunter fassen möchte, war nicht vorgesehen. Es geht nach Angaben der grünen EU-Parlamentarierin Hiltrud Breyer vielmehr um entwürdigende Darstellungen von Menschen wie Bilder von Folter oder Ähnliches. Im Fernsehen sind diese laut einer anderen Richtlinie der EU schon lange verboten. Doch Bild wusste es besser und organisierte flugs eine Oben-ohne-Demo vor dem Brandenburger Tor. Super Bild-Thema. Der noch nicht vorhandene Richtlinienentwurf jedenfalls war gründlich desavouiert und wurde folgerichtig erst einmal auf den Herbst verschoben.

Beim Friseur zahlen Frauen mehr

Die Richtlinie sollte Teil der Antidiskriminierungsgesetzgebung werden. Das Ziel war, parallel zu den bereits existierenden Gleichbehandlungsrichtlinien, die die Arbeitswelt betreffen, auch eine Richtlinie für Bereiche außerhalb der Arbeitswelt zu entwickeln. Dass Frauen, auch wenn sie einen schlichten Herrenhaarschnitt wünschen, den teureren Frauentarif beim Friseur bezahlen, stellt eine solche Diskriminierung dar. Stattdessen könnten Friseure schlicht Tarife nach Aufwand festlegen.

Auch Männer werden wegen ihres Geschlechts diskriminiert: In manchen EU-Ländern bekommen allein erziehende Väter nicht dieselben Sozialleistungen wie allein erziehende Frauen. Bei den Autoversicherern ist es üblich, Männern höhere Beiträge für die Unfallversicherung abzuknöpfen als Frauen. Der Mann muss für sein Geschlecht haften, obwohl er vielleicht völlig unfallfrei fährt. Private Krankenversicherer bürden den Frauen mit bis zu 100 Euro teureren Beiträgen die Mutterschaftskosten auf – dabei gehören zur Elternschaft meist zwei Menschen.

Hier ein bisschen umzusteuern ist nicht abwegig. Aber: „Es ist ein schwieriges Feld“, gibt Hiltrud Breyer, EU-Parlamentsabgeordnete der Grünen, zu, die das Vorhaben unterstützt. „Das sind Diskriminierungen, an die sich alle gewöhnt haben. Sie werden in der Öffentlichkeit hingenommen.“

„Schneewittchen-Richtlinie“ nennt Barbara Helfferich das Vorhaben: Es könnte schlafendes Bewusstsein für Diskriminierungen wecken. Bisher weckt es allerdings vor allem Proteste. Wer etwas ändern müsste oder gar meint, von den bisherigen Diskriminierungen zu profitieren, war plötzlich hellwach. Die Verbände der privaten Versicherungswirtschaft etwa intervenieren auf allen Ebenen: bei der Europäischen Kommission, im Parlament, auf Fachtagungen, im Kanzleramt.

„Ein fundamentales Missverständnis“ sieht etwa Peter Schwark vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft: Allein die Versicherungsmathematik führte zu den ungleichen Tarifen für Männer und Frauen. „Die Tatsache, dass Frauen länger Rente beziehen, weil sie länger leben, muss bei den Renten doch berücksichtigt werden.“ Daher bekommen sie im Schnitt 12 Prozent weniger Rente als Männer. Dabei gibt es Faktoren, die die Lebenslänge weitaus stärker beeinflussen als das Geschlecht. Die aber werden nicht berücksichtigt. Warum, so fragt sich Barbara Riedmüller, Professorin für die vergleichende Analyse der europäischen Sozialsysteme an der FU Berlin, „werden die viel größeren Risiken Berufsgruppe und soziale Schicht nicht berücksichtigt?“ Ein Bauarbeiter, der sehr viel früher sterbe als ein Hochschullehrer, zahle selbstverständlich für diesen mit.

Versicherungsmann Schwark sind solche Daten zu unsicher: „Was, wenn der Bauarbeiter den Beruf wechselt? Was, wenn der Hochschullehrer plötzlich Alkoholiker wird? Sollen wir dann die Police ändern?“ Das Geschlecht dagegen sei schwer zu wechseln.

Dagegen argumentieren die BefürworterInnen der Richtlinie: „Wir rechnen immer mit der Solidarität zwischen Frauen mit unterschiedlichen Risiken und zwischen Männern mit unterschiedlichen Risiken“, meint Hiltrud Breyer, „warum nicht auch mit der Solidarität zwischen Frauen und Männern?“ Schließlich sei auch nicht vorhersehbar, wann die einzelne Frau und der einzelne Mann sterben. Breyer fragt sich, warum die Versicherer sich derart sträuben: „Die machen doch gar keinen Verlust. Die Männer zahlen künftig etwas mehr, die Frauen etwas weniger.“ Das gleiche sich aus. Was könnte eine Versicherung dagegen haben? Viel, wie sich zeigt, wenn man Peter Schwark fragt: „Für die Männer wird es teurer, die werden auf andere Finanzprodukte ausweichen, Banksparpläne etwa.“ Barbara Riedmüller ist sich da gar nicht so sicher. „Ich habe eine private Umfrage gemacht bei 15 nicht schlecht verdienenden Angestellten. Sie wollten zwar gerne einen billigen Tarif, aber sie wollten natürlich auch, dass ihre Frau gut abgesichert ist. Wenn man fragt, ob sie für ihre Ehefrau etwa weiterhin eine schlechte Versicherung bevorzugen oder lieber einen höheren Beitrag zahlen, dann wollen alle ihre Frau gut absichern und dafür mehr zahlen.“ Ohnehin käme die Summe der Prämien von Paaren wieder aufs selbe heraus, wenn es Unisex-Tarife gäbe. „Wer weiß“, schmunzelt sie, „am Ende würde Unisex ein Renner!“

Die Versicherungen aber, so vermutet die Grüne Hiltrud Breyer, wollen die Männer weiterhin mit den billigstmöglichen Tarifen locken und hoffen, dass die dann die „teureren“ Ehefrauen gleich mitbringen. Und das Kanzleramt? Hörte das Maulen der Wirtschaft und gab sich willfährig. „Man kann’s auch übertreiben mit der Regulierung“, erklärte Bundeskanzler Schröder in einem Gespräch mit dem Deutschen Frauenrat, der sich über die massiven Proteste gegen die Richtlinie beschwerte. Er gehe davon aus, dass diese Richtlinie so nicht veröffentlicht werde.

Unisex bei der Riester-Rente

Überregulierung. Das Lieblingswort der Wirtschaft, wenn es um Gleichstellungsmaßnahmen geht. Mit dem Bewusstsein für Geschlechtergleichheit ist es in Deutschland ohnehin nicht weit her. „Die Frau wird geschützt und hat keine Rechte“, fasst Politologin Riedmüller die althergebrachte Ideologie zusammen. „Wir sind kulturell rückständig.“

Die Schneewittchen-Richtlinie sollte Europa wachküssen, doch Europa will lieber weiterschlafen. Denn andere Länder sind nicht viel weiter in diesen Fragen. Auch Schweden hat sich nicht an die Privatversicherungen gewagt, allerdings die staatlich geförderte Zusatzvorsorge, quasi die schwedische Riester-Rente, mit einem Unisex-Tarif versehen. Die Niederlande haben obligatorischen Betriebs- oder private Rentenversicherungen, die geschlechtsneutral sind. Die Polen dagegen waren entgeistert, als sie mit dem Vorschlag konfrontiert wurden. Auch ihre staatlich organisierte Privatrente ist selbstverständlich nach Geschlechtern getrennt. Man zahlt zwar gleichviel ein, aber Frauen bekommen weniger heraus.

Dass da etwas im Argen liegt, dräut inzwischen auch der deutschen Frauenministerin. Renate Schmidt kündigte vor kurzem an, dass zumindest die Riester-Rente mit Unisex-Tarifen ausgestattet werden soll. Das hatte die SPD auch einmal auf einem Parteitag beschlossen. Ganz so abwegig scheint die Analyse, dass da diskriminiert wird und zumindest der Staat sich das nicht leisten will, nicht zu sein. Doch im Sozialministerium, das für die Riester-Rente zuständig ist, ringt man um Worte. Schließlich diskriminiere ja der Staat mit seinen Zulagen nicht, die werden neutral ausgezahlt, erklärt eine Sprecherin. Die Wirtschaft dagegen kalkuliere eben nach Risiken, das könne man ihr nicht so eben mal verbieten. Die Wirtschaft, das Lied kennt man ja von dieser Regierung, soll nicht mit Grundsätzen wie der Gleichheit der Geschlechter behelligt werden. Das war mit dem geplanten Gesetz zur Gleichstellung in Betrieben so, das wird bei der Antidiskriminierungsrichtlinie nicht anders. Deutschland bleibt Schneewittchenland.