jenni zylka über Sex & Lügen : Raus und rein ohne Papstsegen
Urbane Mythen mit skandalösen Inhalten lösen allmählich die alten Gruselgeschichten ab
Nach „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides wirken die eigenen kleinen Haut- und Herzverstrickungen noch mal so langweilig. Die meisten Menschen meines Sing-, Spiel- und Kulturkreises haben schließlich nicht einmal Probleme, ihre hormonelle Hauptverkehrsachse zu benennen, auch wenn das Befahren weitaus schwieriger sein kann. Größtenteils läuft es aber doch so ab wie bei Hitchcocks Döneken mit dem dollen Filmstoff, der ihm in einer stürmischen Nacht träumte, sodass er sich, müde und verschlafen, genötigt fühlte, diese grandiose Idee gleich auf dem Papier festzuhalten. Am nächsten Morgen guckte er auf seine Notizen, und dann stand da: Boy meets girl.
In letzter Zeit, und nicht erst seit der Eugenides-Lektüre, kommt es mir jedoch so vor, als ob sich etwas ändert: Eine meiner langjährigsten Bekannten zum Beispiel kam plötzlich und spektakulär rein, nach ewigen Zeiten am anderen Ufer, und lebt jetzt fröhlichste und trauteste Heterozweisamkeit. Eine andere kam ungefähr zur selben Zeit raus und erklärt das, wie so viele, mit einer verzögerten Selbstwahrnehmung. Und gestern gestand mir ein Gast aus dem Überseeausland, der dort seit Jahren mit seinem Freund zusammenlebt, mit einem verknallten Lächeln und geröteten Wangen, er habe jetzt eine „Mistress“ hier in Berlin, wobei er nicht das lacklederige „Herrin“ damit meinte, sondern das verschämte „Mätresse“.
Ist doch prima, sage ich da, von mir aus sollen die jungen (und alten) Leute durcheinander kraxeln wie das Obst in einem guten Obstsalat, sollen sich durchrütteln wie die kalten und warmen Zutaten in einem Feng-Shui-Cocktail, sollen sich, Männlein wie Weiblein wie andere Definitionen, aneinander schmiegen wie die Autos im aktuellen Ferienstau. Wenn’s ihnen Spaß macht. Schließlich gibt es, das wissen die Weisen, kein einziges Argument gegen das Tollen auf verschiedenen Plätzen. Und da man mittlerweile seit mehr als 30 Jahren (also quasi einer Generation Golf) von einer allgemeinen Befreiungsbewegung aller möglichen sexuellen Geneigtheiten und Faibles sprechen kann, könnte man das alte „Wie sag ich’s wem auch immer und behalte meinen Job?“-Problem doch wohl endlich vergessen.
Gruseligerweise treffe ich aber immer wieder Juvenile, die ihre eigentliche sexuelle Gesinnung zwar bereits genau entdeckt haben, sich aber noch immer sehr davor fürchten, es zum Beispiel ihren Eltern/ihrem/ihrer Alleinerziehenden mitzuteilen. Dazu passend werden die vor ein paar Jahren noch mit plärrenden Scheißebündeln kämpfenden Eltern in meinem Bekanntenkreis mehr und mehr zu MitbewohnerInnen von wachsenden und sich artikulierenden Kindern. Und wenn man diese Eltern nun fragt, was sie zu etwas anderem als der alten Boy-meets-girl-Nummer für ihre Brut sagen würden, dann kommt tatsächlich oft ein „Na ja, das wäre okay, aber ich würde mich doch mehr freuen, wenn er/sie hetero wäre …“ oder, fast noch schlimmer: „Aber ich möchte doch mal Oma/Opa werden …“
Schrecklich! Hat diese Generation zu viel vom supergesunden Spinat-Milch-Drink „Grüne Minna“ getrunken? Oder will man die kollektive Legendenbildung (Stichwort „urbane Mythen“) durch erzählenswerte und skandalöse Coming-out-Geschichten mit intoleranten Mitmenschen schlichtweg nicht aufgeben?
Wenn es nur darum geht, melde ich mich gern dafür, im Rahmen meiner Möglichkeiten ein paar neue Coming-out-Geschichten zu dichten. Aufgrund verschiedener dunkler Punkte in meiner Vergangenheit kann ich mir ganz hervorragend fiese, spießige Verwandte, Nachbarn, LehrerInnen ausdenken, die mit hexenhammerartigen Argumenten gegen das Aufblühen der anders gelagerten Sexualität ankämpfen, ich könnte vertrauenserschleichende Popen und Kirchentreue ersinnen, die das beichtende Kind mit grausigsten Absolutionsforderungen foppen, kann mir Mütter mit drohendem Herzklabaster und Väter mit harter Hand zusammenfantasieren. Aber derlei Menschen sterben doch wohl langsam aus, oder?
Ach ja, fast vergaß ich es: Im Vatikan gibt es sie natürlich noch, man muss sich solche Verhältnisse also gar nicht extra ausdenken, sondern einfach das neueste, von den üblichen längst tot geglaubten Witzfiguren veröffentlichte Antihomosexuellenpamphlet lesen. Und schon weiß man wieder, wogegen man ist und wo man die urbanen Mythen findet, wenn man sie als Einschlafgruselgeschichten für aufgeweckte lesbische Mädchen oder neugierige schwule Jungs braucht. Und wenn du nicht brav bist, dann holt dich der Papst.
Fragen zur sexuellen Gesinnung? kolumne@taz.de