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Archiv-Artikel

Der Tiefpunkt des Daseins

„Wir schöpften keinen Verdacht, dass wir nur für etwas Größeres aufgespart wurden“

von SIMONE HILGERS-BACH

Es war kurz nach dem Frühstück am Morgen des 6. August 1945. Karl Luhmer, ein junger Jesuitenpriester, der 1937 von seinem Orden als Missionar nach Japan geschickt worden war, hatte gerade angefangen, das Brevier zu lesen. Es war der Tag der Verklärung Christi auf dem Berg Tabor, und es wurde der Tag, nach dem die Erde nicht mehr dieselbe war. „Da sah ich im Süden, mir schien direkt hinter dem nächsten Hügel, eine hellgelbe, leuchtend rotviolette Kugel erscheinen, die heller war als die Sonne“, erinnert Luhmer sich heute. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde eine Atombombe gegen Menschen eingesetzt. Sie tötete 200.000.

„Wir waren damals trainiert in Deckung zu gehen, also lief ich sofort eine Treppe in den Keller hinunter“, erzählt Luhmer. Er spürte, wie eine heiße Welle übers Haus kam und ein starker Windstoß. Das Haus bebte, Dachpfannen fielen herunter, die Fensterscheiben zerbarsten. Über die Glassplitter rannte der 28-Jährige in den Keller. Dort wartete er – aber nichts passierte. Was war geschehen? „Instinktiv dachte ich, in der Nähe sei eine Bombe explodiert. Aber ich hatte keinen Ton gehört und auch keine fliegenden Splitter gesehen wie sonst. Also ging ich wieder nach oben.“ Später erfuhr er: Genau vier Kilometer von ihm entfernt war die Atombombe explodiert. Luhmer hatte den Bomber „Enola Gay“ am Himmel über der Stadt gesehen. Was eine Atombombe war, wusste er damals nicht.

Klaus Luhmer war 1945 einer von 14 deutschen Jesuiten, die Zuflucht in ihrem Noviziatshaus in Hiroschima gesucht hatten. Seit November 1944 waren jede Nacht Bomber nach Tokio gekommen, zuerst kleinere, dann immer größere Geschwader. „Wir hatten gedacht, wenigstens in der Weihnachtsnacht würden sie uns in Ruhe lassen“, erinnert sich Luhmer, „aber selbst da kamen sie.“ Ans Studieren war nicht mehr zu denken, deshalb zogen die Theologen nach Hiroschima. Bis zum 6. August hatte es dort keine Bombardierung gegeben. Die japanischen Städte wurden eine nach der anderen von den Amerikanern zerstört, zuerst die großen, dann immer kleinere. Mittlerweile waren die 100.000-Einwohner-Städte dran, aber Hiroschima mit seinen damals 400.000 Einwohnern wurde verschont. „Wir schöpften keinen Verdacht“, sagt Luhmer, „dass wir nur für etwas Größeres aufgespart wurden.“ Als Luhmer wieder aus dem Keller kam, lief er einen Hügel hoch, bis er über die Stadt sehen konnte. Sie war ein einziges Flammenmeer. „Es war klar: Eine Waffe, was immer sie auch gewesen sein mochte, hatte die ganze Stadt zerstört.“ Es begann zu regnen, schwarze Tropfen, dabei war es ein heiterer Morgen gewesen. Der Regen war lebensgefährlich, aber das wusste damals niemand.

Gegen 9.30 Uhr kamen die Brandopfer zu tausenden aus der Stadt. Die Jesuiten konnten etwa hundert aufnehmen, legten sie auf Binsenmatten in die Kapelle, die Bibliothek, auf die Gänge. Der Rektor hatte Medizin studiert, er betreute die Kranken 48 Stunden ohne Unterbrechung. Zu Luhmer sagte der Obere: „Besorg mehr Verbandszeug!“ Aber es war nichts mehr zu bekommen, die Verbandsstelle war selbst voll belegt mit Verwundeten. Es gab keinen Arzt, keine Krankenschwester, alle waren umgekommen durch die Bombe.

Klaus Luhmer erinnert sich: „Überall auf der Straße lagen Verwundete. Pater Laures und ich packten einen Fahrradanhänger und schafften damit jeweils vier Verwundete zur Verbandsstelle.“ Der Zufall wollte es, dass an diesem Tag ein Maler die beiden Pater sah, wie sie Verletzte mit dem Fahrradanhänger transportierten. Er skizzierte die Szene, kolorierte sie, und 30 Jahre später fand er die Ausländer wieder, die er gemalt hatte. Er schenkte Luhmer das Bild.

Die Tage nach der Atombombe verbrachte der 28-jährige Jesuit damit, Verschüttete mit bloßen Händen auszugraben, verletzte Mitbrüder aus der Stadt zu bergen und Verwundete zu versorgen. Er sah verglühte Leichen, rot verbrannt. Ein Erlebnis, das ihm bis heute vor Augen ist: „An einer Brücke sah ich fünfzig Soldaten in voller Uniform, halb verbrannt, die nach Wasser riefen. Neben dem Fluss war ein Brunnen, wir fanden auch eine Art Tasse, und gaben den Soldaten zu trinken. Medizinisch war das nicht richtig, aber was wussten wir denn damals.“ Die Stadt hatte keine Straßen mehr, Häuser und Telegrafenmasten, Drähte und Ziegel bildeten ein Meer aus Schutt. Im Tresor der Jesuiten fanden sie nur noch Asche. „An einer Kreuzung hatte das Militär einen Berg mit Reisklößen aufgetürmt“, erinnert sich Luhmer, „aber viele Verletzte kamen gar nicht bis dorthin. Also haben wir die Leute ernährt.“

Einem Mitbruder wurden auf dem Tisch im Speisesaal, der zum Operationstisch gemacht wurde, 50 Glassplitter ohne Betäubung aus dem Rücken gezogen. „Von den Verletzten hatten viele Durchfall“, erzählt Luhmer, „das Klo war verstopft, na ja, so war das eben.“ Die Brüder kümmerten sich um alles. Pater Luhmer kremierte in den ersten Tagen fünf Leichen. Im Wald war eine Grube, dort gab die Dorfverwaltung fünf Bündel Stroh und 15 Bündel Holzscheite für jeden Erwachsenen aus, für Kinder drei Bündel Stroh und neun Bündel Holz. „Das reichte natürlich nicht“, erzählt der Jesuit. „Es ist nicht so einfach, eine Leiche in Asche zu verwandeln.“

Am 8. August wurde die Stadt geschlossen. Militärs warfen die Leichen auf große Haufen und brannten sie mit Benzin an. 32 Freunde Luhmers waren darunter, namenlos verschwunden. Einige Wochen später, als das Schlimmste vorüber war, ging Luhmer in die Stadt und suchte seine Bekannten. Einige fand er tatsächlich wieder, viele nicht. Monatelang standen an den Straßen Gestelle mit gestapelten Urnen. Am 9. August fiel die zweite Atombombe. Erst da erfuhr die Bevölkerung, was Hiroschima zerstört hatte. „Es hieß, die Städte würden 99 Jahre nicht mehr bewohnbar sein“, erzählt Luhmer. „Aber schon nach wenigen Tagen war es nicht mehr lebensgefährlich, in die Stadt zu gehen.“

Für Luhmer war die Atombombe bald Vergangenheit. „In mir hat sich nichts verändert“, sagt er. „Ich war immer gegen den Krieg.“ Er blieb in Japan, wurde Professor und Rektor an der Sophia-Universität in Tokio. Heute ist er noch Präsident der Montessori-Gesellschaft in Japan und Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Japans Hauptstadt. „Die Atombombe war zweifellos der Tiefpunkt meines Erdendaseins“, sagt der 86-Jährige. „Aber Alpträume habe ich deswegen keine. Es war Krieg, in Tokio kamen 400.000 Menschen um, überall starben die Menschen. In Hiroschima war es die Atombombe, ja, aber das war doch nur ein quantitativer Unterschied. Totaler Krieg ist totaler Krieg.“

Klaus Luhmer erinnert sich, dass er und seine Mitbrüder sich bei dem japanischen Bürgermeister ihres Dorfes entschuldigen wollten, weil Christen die Atombombe geworfen hatten. Aber der antwortete ihnen: „Spinnt ihr? Hätten wir die Bombe gehabt, hätten wir sie auch benutzt.“