: Woher das „Gängelband“ kommt
In der Ausstellung „Kinder in Fahrt“ ist die Geschichte der mobilen Kindheit zu sehen. Junge Besucher können einen Teil der Exponate ausprobieren, Erwachsene in die Sittengeschichte eintauchen. Der zunehmende Autoverkehr hat den Bewegungsspielraum der Kinder immer mehr eingeengt
VON CHRISTINE SPIESS
Im Museum ist der Bär los. Gut 15 Kindergartenkinder schnappen sich aus dem Fuhrpark ein Vehikel – Bobbycar, Roller, Fahrrad, Kettcar – und sausen los: über Straßen, die auf dem Museumsboden aufgeklebt sind, zweimal durch den Kreisverkehr – und hoppla, kurz vor dem Zebrastreifen schnell gebremst.
„Kinder in Fahrt“ heißt es bis zum 17. Mai im Bremer Focke-Museum und der Titel der Ausstellung ist ganz buchstäblich zu verstehen: Eltern sollen mit ihren Kindern kommen und schauen, was es da alles zu erfahren gibt. Das ist ja nicht immer so bei Ausstellungen. Als Frauke von der Haar vor knapp einem Jahr Direktorin des Focke Museums wurde, war dort die Ausstellung „Luxus und Dekadenz“ zu sehen, mit prächtigen, wertvollen und sehr empfindlichen zweitausend Jahre alten Exponaten. Damals hätten sich etliche Eltern beklagt, dass sie mit ihren Kindern im Kinderwagen nicht in die Ausstellung durften, sagt von der Haar – zu eng, zu wertvoll und deshalb versicherungsbedingt verboten.
Frauke von der Haar jedenfalls dachte sich damals, dass ihre nächste Ausstellung ausdrücklich auf Familien mit kleinen Kindern in Kinderwagen und Buggys zugeschnitten sein soll. Geradezu prädestiniert dafür schien ihr die Ausstellung „KinderMobil“ aus dem Museum Europäischer Kulturen in Berlin, die sie jetzt nach Bremen holte.
Natürlich ist in Bremen auch eine ganz klassische Ausstellung zu sehen, nicht nur eine Schau für Eltern und ihre Kinder. Viele Exponate erzählen sehr lebendig, wie Eltern sich in den vergangenen 200 Jahren mit ihrem Nachwuchs durchs Leben bewegten, und wie diese Kinder zunehmend selbst mobil wurden.
Also jede Menge Kinderwagen, Schlitten, Roller, Fahrräder, könnte man etwas gelangweilt denken. Klar gibt es die und vieles kennt man natürlich auch aus Museen oder der eigenen Kindheit. Aber in der Zusammenstellung wird man immer wieder überrascht und erfährt viele interessante kulturgeschichtliche Aspekte und Zusammenhänge.
Wer erinnert sich noch an die oft verbiestert geführte ideologische Auseinandersetzung Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, ob ein Kind besser im Kinderwagen oder im Tragetuch aufgehoben sei? In der Ausstellung erfährt man nun, dass es lange bevor die Frauen in den 70er Jahren die bunten Tragetücher der Indianerinnen für sich entdeckten, auch in Deutschland üblich war, die Kinder in Tüchern zu tragen: ein Wissen, das vollkommen verschüttet war.
Vor allem in den hügeligen Gegenden von Thüringen oder Hessen gab es bis vor 50 Jahren noch solche Tragetücher und Tragemäntel. Tücher und Mäntel kann man in der Ausstellung dabei nicht nur anschauen, sondern auch selbst ausprobieren. Für die Kinder liegen Tücher im Miniaturformat und Puppen bereit.
Zum Erstaunen der jüngeren Erwachsenen und der Kinder gibt es in der Ausstellung auch etwas, was wir eigentlich nur noch metaphorisch kennen: das Gängelband, mal schlicht wie eine Leine, mal aufwändig wie ein Pferdegeschirr, und eines sogar mit vielen Halteschlaufen für eine Kindergruppe. In weiten Teilen ist die Ausstellung ein Parforceritt durch 150 Jahre Verkehrsgeschichte. Erst ausgebaute Straßen machten den Siegeszug des Kinderwagens möglich. Am Anfang war er ein Promenadenwagen für schönes Wetter, wenig geeignet, lange Wege zurückzulegen. Das änderte sich schnell. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kinderwagen zum Massenprodukt. Dabei war der Kinderwagen natürlich der Mode unterworfen: Die Exemplare aus den 50er Jahren zum Beispiel schauen aus wie kleine Borgwards, schnittig und sehr elegant. Bald hingegen sollte der Kinderwagen nicht mehr wie ein Auto aussehen, sondern ins Auto hineinpassen. Heute sind sie beides: hoch technologische Vehikel, die dreirädrig über Stock und Stein fahren und zusammengelegt klein genug fürs Flugzeug sind.
Ein großer Teil der Ausstellung befasst sich mit dem Kind auf der Straße: Kinderhochrad, Holz- und luftbereifter Roller, Fahrrad, Kettcar, Laufrad – alles was das Kinderherz begehrt, ist da. Immer besser, immer schneller wurden die Gefährte.
Der Parcours, auf dem die Kinder viele dieser Fahrzeuge ausprobieren können, wurde extra für Bremen konzipiert, um die Kindertauglichkeit der Ausstellung zu erhöhen. Und während man den Kindern zusieht, wie sie vergnügt über die Spielstraßen flitzen, kann man darüber nachdenken, dass die besseren und schnelleren Fahrzeuge für die Großen den Kindern nicht mehr Spielraum schafften.
Früher hatten die Kinder einen Bewegungsradius von einigen Kilometern, in dem sie sich selbständig bewegten. Heute spricht die Forschung von Verinselung der Kindheit: hier der Kindergarten, dort der Reitunterricht, da die Musikschule. Und von Insel zu Insel werden sie von Mama oder Papa chauffiert, das Laufrad im Kofferraum.
Focke-Museum, Schwachhauser Heerstraße, Bremen, bis 17. Mai